Der Glanz des Mondes
Durst. Sie war ruhig und fühlte fast gar nichts, nur das Pochen des Blutes hinter ihren Schläfen. Sie fürchtete sich davor, Fujiwara zu treffen, fürchtete die Macht, die er über sie hatte. Es war die Macht, die Männer überall über Frauen ausübten, in allen Bereichen ihres Lebens. Sie musste verrückt gewesen sein anzunehmen, dagegen ankämpfen zu können. Allzu deutlich kamen ihr Lady Naomis Worte wieder in den Sinn: Ich muss meine Macht vor Männern verstecken, sonst zögern sie nicht, mich zu vernichten.
Nun wurde sie selbst von ihnen vernichtet. Shizuka hatte sie davor gewarnt, dass ihre Heirat die Ältesten ihrer Klasse erzürnen würde - dass man sie nie und nimmer zulassen würde. Doch wenn sie folgsam gewesen wäre und getan hätte, was man ihr sagte, hätte sie die Monate mit Takeo nie erlebt. Der Gedanke an ihn erfüllte sie, trotz des beruhigenden Tees, erneut mit so heftigem Kummer, dass sie ihn in den hintersten Winkel ihres Herzens verbannte, versteckt wie die Aufzeichnungen über den Stamm, die in den Heiligen Höhlen ruhten.
Sie bemerkte, dass Rieko sie eindringlich musterte. Kaede drehte den Kopf weg und nahm noch einen Schluck Tee.
»Kommen Sie schon, Lady Shirakawa«, sagte Rieko forsch. »Sie dürfen nicht grübeln. Sie stehen kurz vor einer wunderbaren Hochzeit.« Sie rückte, auf den Knien rutschend, ein wenig dichter heran. »Sie sind so schön, wie man es sich erzählt, nur zu groß gewachsen, aber Ihre Haut neigt zur Blässe und diese düstere Miene steht Ihnen ganz und gar nicht. Ihre Schönheit ist Ihr größtes Kapital. Wir müssen alles tun, um sie zu erhalten.«
Sie nahm die Teeschale und stellte sie auf das Tablett. Dann löste sie die Bänder, die Kaedes Haar zurückhielten, und begann es auszukämmen.
»Wie alt sind Sie?«
»Sechzehn.«
»Ich habe Sie für älter gehalten, mindestens zwanzig. Sie sind wohl der Typ, der rasch altert. Darauf werden wir achten müssen.« Der Kamm kratzte so heftig über Kaedes Kopfhaut, dass ihr vor lauter Schmerz die Tränen in die Augen traten. »Es muss sehr schwierig sein, Ihr Haar zu frisieren; es ist sehr weich.«
»Normalerweise trage ich es zurückgebunden«, erwiderte Kaede.
»In der Hauptstadt ist es Mode, es hochzustecken«, sagte Rieko und zog dabei in einer Art und Weise, als wollte sie ihr absichtlich wehtun. »Dickeres, gröberes Haar ist begehrter.«
Sympathie und Verständnis hätten Kaedes Kummer vielleicht freien Lauf gelassen, die Unfreundlichkeit Riekos dagegen stärkte ihren Willen, nie die Beherrschung zu verlieren, ihre Gefühle niemals zu zeigen. Ich habe im Eis geschlafen, sagte sie sich. Die Göttin spricht zu mir. Ich werde hier irgendeine Kraft finden und sie nutzen, bis Takeo kommt, um mich zu befreien. Er würde kommen, das wusste sie, oder bei dem Versuch sein Leben lassen, und wenn sie seinen leblosen Körper sah, wäre sie von ihrem Versprechen erlöst und würde ihm in die Schatten der jenseitigen Welt folgen.
In einiger Entfernung war plötzlich das aufgeregte Bellen von Hunden zu hören und im nächsten Moment wurde das Haus von einem Erdstoß erschüttert, länger und ein wenig heftiger als in den Tagen zuvor.
Kaede fühlte, was sie immer fühlte: Schock und Verblüffung darüber, dass die Erde zittern konnte wie frischer Tofu, und eine gewisse Hochstimmung, dass nichts unveränderlich oder sicher war. Nichts würde ewig überdauern, nicht einmal Fujiwara und sein Haus voller Schätze.
Rieko ließ den Kamm fallen und beeilte sich, auf die Beine zu kommen. Die Mädchen kamen zur Tür gerannt.
»Kommen Sie schnell nach draußen!«, rief Rieko mit ängstlicher Stimme.
»Warum?«, entgegnete Kaede. »Das ist kein schweres Erdbeben.«
Rieko hatte den Raum bereits verlassen. Kaede hörte, wie sie den Mädchen befahl, alle Lampen zu löschen, fast kreischend in ihrer Panik. Kaede blieb, wo sie war, horchte auf die hastigen Schritte, die lauten Stimmen, das Bellen der Hunde. Nach einer Weile griff sie zum Kamm und fuhr fort, ihr Haar auszukämmen. Weil ihr Kopf schmerzte, ließ sie es einfach offen.
Das Gewand, das man ihr zuvor bereits angelegt hatte, erschien ihr genau richtig, um den Mond zu betrachten: Es war taubengrau und mit Buschklee und zitronengelben Laubsängern bestickt. Sie wollte den Mond sehen, in seinem silberigen Licht baden, daran erinnert werden, wie er am Himmel kam und ging, für drei Tage verschwand und dann wieder zurückkehrte.
Die Mädchen hatten die Tür zur Veranda offen
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