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Der Glanzrappe

Der Glanzrappe

Titel: Der Glanzrappe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unknown
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flachen Schatten, die durchs Dunkel huschten.
    »Ich bin blind«, sagte der Soldat.
    »Mein Vater«, sagte Robey .
    »Bleib, bis ich tot bin, ich will nicht, daß mich das Schwein bei lebendigem Leib auffrißt. Es dauert nicht mehr lange.« Robey wollte nicht so lange von seinem Vater wegbleiben, aber er hob trotzdem den Säbel auf und bewachte in der nächsten Stunde das Feld der Sterbenden. Er hätte sich viele Fragen stellen können, aber die einzige Frage, über die er nachdachte, war, warum der Soldat blind war.
    »Warum ist er blind?« flüsterte er auf seinem Patrouillengang. »Warum ist er blind, aber immer noch nicht tot.«
    Er lief die Reihe der Länge nach ab und ging nach einer zackigen Kehrtwende zurück zu dem Soldaten mit dem Phantomschmerz, und nach mehreren solchen Rundgängen wurde er müde, verlor die Geduld und ging hinaus auf das Schlachtfeld, wo die Wildschweine den Boden aufwühlten. Er legte sich mit dem Säbel in der Hand ins nasse Gras und wartete ab, und als schließlich ein neugieriger Keiler auf ihn zukam und ihn mit seiner riesigen Schnauze beschnüffelte, hob er den Säbel und stieß ihn dem Wildschwein in den Hals. Das Tier quiekte und stürzte sich mit weit aufgerissenem Maul auf ihn. Als er mit einem heftigen Ruck die Klinge im Hals des Wildschweins herumdrehte, spritzte warmes Blut und lief an seinem Arm hinab, und dann gab das Tier keinen Laut mehr von sich. Er zerlegte es auf der Stelle, steckte sich soviel Fleisch in die Taschen, wie er tragen konnte, und l ieß den Rest für die Artgenossen liegen. Am nächsten Morgen würde er sich den Speck und die Schwarte dieses Tiers braten, das sich vom Fleisch und von den Gesichtern der toten Soldaten ernährt hatte, und er stellte sich unwillkürlich vor, daß er den Soldaten, wenn er ihnen davon zu essen gab, etwas von ihnen selbst zurückgab.
    Als er zu dem Soldaten mit dem Phantomschmerz zurückkehrte, wollte er ihm sagen, daß er vielleicht deshalb erblindet war, weil Gott beschlossen hatte, daß er für ein Menschenleben genug gesehen hatte, aber als er bei ihm ankam, sah Robey , daß er gestorben war. Auf seiner Brust lag ein Revolver, ein Remington mit sechs Schuß. Er war geladen, und Robey wußte, daß er für ihn bestimmt war. Er wußte auch, daß sich sein Glaube an Gott ein für allemal erledigt hatte.
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
     
    12 ER FAND DIE GANZE NACHT
    k einen rechten Schlaf, und im Dunkel des frühen Morgens wurde er von den leisen Schritten mehrerer Frauen geweckt. Augenblicklich hellwach, setzte er sich auf und sah sie auf dem Schlachtfeld von einem Toten zum nächsten schleichen. Sie weinten in Taschentücher, die sie zuvor mit Minzöl getränkt hatten. Sie waren schlichte, gequälte Kreaturen mit offenem Haar und gebeugtem Rücken, die im Halbdunkel umherwanderten, sich neben die Toten knieten und zu Boden sanken. Er wollte sie ansprechen, wollte sie anfassen, um sicherzugehen, daß er nicht nur träumte.
    Er sah auf den Hengst, der still neben ihm Wache stand, erkannte in dessen Gesicht die eigene Trauer und schöpfte Stärke aus der Teilnahmslosigkeit, mit der das Tier dastand. Bestimmt spürte das Pferd, was er spürte. Bestimmt wußte es, was er wußte. Die Frauen waren Schwestern oder Mütter oder Geliebte. Ganz gleich, sie weinten und gingen stockend weiter, und er überlegte, ob sie die Männer, nach denen sie suchten, wirklich finden wollten. Er selbst hatte den gefunden, den er suchte, und er wünschte sich, es wäre nicht geschehen, denn jetzt war fast alle Hoffnung dahin.
    Als er wieder aufwachte, war es Tag, und er wurde mit Steinchen beworfen. Er öffnete die Augen und erblickte d as Mädchen. Er wußte, daß sie es war, ehe er sie sah, aber er schloß noch einmal die Augen und öffnete sie erneut, und sie stand immer noch da.
    Sie schaute ihn reglos an, die Sonne blendete ihn, und er erkannte nur ihre schwarze Silhouette und schirmte die Augen mit der Hand ab, um sie besser betrachten zu können. Er drehte sich auf die Seite und begegnete ihrem merkwürdigen Blick. Sie trug ein einfaches schwarzes Kleid mit weißen Spitzenmanschetten an den Ärmeln und eine Trommel an der Hüfte. Wie sie in diesem schwarzen Kleid neben dem Glanzrappen stand, schien sie Teil des Pferdes zu sein, schien wie aus ihm geboren, und der dünne gelbe Lichtspalt zwischen ihnen, der langsam breiter wurde, war die endgültige

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