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Der Glaspavillon

Titel: Der Glaspavillon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nicci French
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verfahren im Uhrzeigersinn, ich fange an. Ich heiße Melanie. Ich habe mich daran erinnert, daß ich von meinen Vater und meiner Mutter mißbraucht worden bin.«
    Nun stellten sich alle nacheinander vor – soviel Leid war kaum zu ertragen. Schließlich war die Reihe an mir.
    Meine Wangen brannten.
    »Ich heiße Jane«, sagte ich. »Bitte, ich bin leider nicht recht auf das hier vorbereitet. Ich habe nichts von Ihrer Arbeitsgruppe gewußt. Ich wollte nur mal zuhören, um die Gruppe kennenzulernen.«
    »Das ist doch in Ordnung, Jane«, sagte Sylvia, eine hübsche, robuste Frau mittleren Alters. »Zuerst mal müssen wir lernen, Worte für das zu finden, was uns angetan wurde. Wir haben uns so sehr daran gewöhnt, daß man uns nicht glaubt und uns verunsichern will. Aus diesem Grund haben wir unser Trauma verdrängt.«
    »Entschuldigung«, sagte die Frau links von mir. »Darf ich mich noch vorstellen, bevor wir mit der Diskussion beginnen?«
    »Ja, natürlich«, sagte Melanie. »Nur zu.«
    »Hallo, ich heiße Sally, und ich erinnere mich daran, daß mich mein Vater und ein Freund der Familie mißbraucht haben. Entschuldigen Sie, daß ich Sie unterbrochen habe, Sylvia.«
    Alle schwiegen verlegen, denn Sylvia war eigentlich mit ihren Ausführungen fertig gewesen. Ich nutzte die Stille, um noch etwas zu sagen.
    »Es tut mir leid, aber ich bin noch nicht soweit. Sie sind alle so mutig, und ich halte es kaum aus, mir vorzustellen, was ihr durchgemacht habt. Für mich ist das alles noch so frisch.«
    »Wir sollten Ihnen nicht leid tun«, meinte Carla, eine junge Frau mit wunderschönen hennaroten Haaren und einem phantasievollen, langen, bunten Kleid. Sie sah traumhaft aus – wie eine Zigeunerin. »Das Schreckliche ist die Unfähigkeit, darüber zu reden. Hier in der Gruppe haben wir versucht, uns von dieser Ohnmacht zu befreien.
    Jane, ich weiß nicht viel über Sie, aber wahrscheinlich zweifeln Sie noch an den Erinnerungen, die Ihr Gedächtnis freigegeben hat, fühlen sich schuldig und machen sich Sorgen über die Konsequenzen. Mißbrauchs-opfer durchleben alles noch einmal, wenn sie versuchen, das Geschehene in Worte zu fassen. Jeder, der die Aussage einer mißhandelten Frau in Frage stellt, wird selbst zum Täter. Der Zweck unserer Gruppe besteht darin, daß wir uns gegenseitig helfen und unterstützen.
    Wir glauben und vertrauen Ihnen, Jane.«
    »Danke. Sicher ist Ihre Gruppe eine wichtige emotionale Unterstützung.«
    Die Frauen lachten und sahen einander an. Melanie klopfte mit dem Stift auf ihren Ordner und bat um Ruhe.
    Dann sagte sie:
    »Es geht nicht nur um Gefühle, sondern um Politik.
    Wenn Sie bei uns mitmachen wollen, was wir sehr hoffen, werden Sie bald herausfinden, daß Mißbrauch kein isolier-tes Verbrechen ist und selbst von Menschen in verantwortlichen Positionen verübt wird. Das ist die Situation, gegen die wir antreten.«
    »Das kann nicht Ihr Ernst sein!« protestierte ich.
    »Denken Sie an Ihre persönliche Erfahrung, Jane. Sie haben einen Mörder und Vergewaltiger entlarvt, der fünfundzwanzig Jahre seiner gerechten Strafe entgangen ist. Und jetzt? Wird Ihre Aussage ernstgenommen? Wird sie aktenkundig festgehalten?«
    »Ich habe eine Aussage gemacht. Aber er hat ein Geständnis abgelegt«, räumte ich ein. »Er bekennt sich schuldig.«
    »Wie praktisch«, sagte Melanie. »Die Leute wollen nicht wahrhaben, daß Mißhandlungen weitverbreitet sind und nicht nur ein Irrer zu dieser Tat fähig ist, sondern ebenso unser Nachbar, der Mann nebenan. Es ist so schrecklich, daß man gar nicht daran denken will. Deshalb sind wir, die Opfer, diejenigen, die sich nicht daran erinnern sollen und die beschimpft werden, wenn sie es doch tun. Aber damit ist jetzt Schluß. Bald werden sich uns noch mehr Leute anschließen, bis der Schutzwall bricht, der die Täter umgibt. Die Polizei und Ihre Familien haben Ihnen einzureden versucht, Ihre eigene Sicht der Dinge zu verleugnen und sich von sich selbst zu entfremden. Wir wollen Ihnen helfen.«
    Nach dem Workshop wollte Alex mir noch andere Leute vorstellen, aber ich sagte ihm, daß ich gern nach Hause fahren möchte. Ich sagte ihm, ich werde ein Taxi nehmen, aber er bestand darauf, mich heimzufahren. Ich schwieg lange, während wir uns langsam durch den Berufsverkehr bewegten.
    »Wie fanden Sie Melanies Gruppe?«
    »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Es fällt mir schwer, über soviel Leid vernünftig zu reden.«
    »Hätten Sie Lust mitzumachen?«
    »Himmel, das weiß

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