Der globale Polizeistaat
Anfeindungen, es überlebte den Dreißigjährigen Krieg - den es andererseits nicht verhindern konnte - und die anschließende Gründung souveräner, selbstbewusster Staaten im Westfälischen Frieden. Es überlebte den hochnäsigen jungen Herrn Goethe, der 1772 in Wetzlar hospitierte und sich über den von Streitfällen aus dem Riesenreich völlig überlasteten Laden lustig machte. Er hatte ja recht: Manche Prozesse vor dem Reichskammergericht dauerten mehr als hundert Jahre.
Auch dies erinnert an die Zustände der späten Neuzeit: Preußen, die Supermacht unter den vielen kleinen Staaten des Reiches, fand die Wetzlarer unsäglich und tat alles, dem Gericht die Luft zu nehmen. So war es auch im Wasunger Krieg. Bald nach Freilassung der Frau von Gleichen intervenierte aus Preußen Friedrich der Große bei dem Sachsen-Gothaer Herzog und Namensvetter: Er hätte das Mandat des Reichskammergerichts nicht annehmen dürfen. Denn natürlich habe der Herzog von Meiningen recht, das Verfahren vor dem Reichskammergericht sei der »Reichsstände Ehre, Würde und Ansehen höchst präjudizierlich
und nachteilig«. Wundervoll: präjudizierlich. Ein zierliches Wort, das deutlich macht, was den Ärger des Friedrich erregte. Nicht mehr er hatte das letzte Wort, sondern das Recht. Das Reichskammergericht überlebte auch dies. Frieden durch Recht: So einfach war die Idee nicht kaputt zu kriegen.
»Eine neue Weltgewaltordnung«
Der Stärkste sorgt für Frieden - Globale Unordnung -
Es wird dunkel - Frieden durch Krieg - Frieden durch Recht -
Heiliger Römischer Innenminister
Das Reichskammergericht, so sagen manche, war das auf Europa begrenzte Modell eines Weltsicherheitsrates. Doch das stimmt nicht ganz. Das Gericht war so beständig, weil es unabhängig war von den Launen der Fürsten, auch von denen Friedrichs des Großen. Der UN-Sicherheitsrat ist im Griff der egoistischen Machtinteressen der Vetomächte. Mit seinen Resolutionen, die meistens mühsam ausgehandelte Kompromisse sind, hat die Weltinstanz es nicht hinbekommen, die Unterscheidung von Krieg und Frieden, die entscheidende zivilisatorische Barriere der Neuzeit, aufrechtzuerhalten. Die bedingungslose Gewaltanwendung der Militärs und die rechtsgeleitete Rechtsdurchsetzung der Polizei verschwimmen in den weltweiten Auseinandersetzungen mit dem Terrorismus. Die territorialen und rechtlichen Grenzen der Staaten lösen sich auf. Wenn Frieden durch Recht der Traum der Neuzeit war, dann droht uns im 21. Jahrhundert die Postneuzeit. Von »einer neuen Weltgewaltordnung« reden schon die Politikwissenschaftler 2 , einer Weltordnung, in der, wie in den Zeiten vor dem Reichskammergericht, der Stärkste für Frieden sorgt - eine Pax Americana.
Wer versucht, die in diesem Buch geschilderten Entwicklungen zusammenzufassen, kann den Eindruck gewinnen, dass die Geschichte rückwärts abläuft. Vor den Herausforderungen der
terroristischen Bedrohung neigen Politiker in Europa und in den Vereinigten Staaten dazu, die Errungenschaften des Ewigen Landfriedens abzuwickeln. Sachverhalte, die über Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte zum rechtlich geregelten Konfliktbereich zwischen Staat und Bürgern gehörten, werden nun dem Krieg zugeschlagen oder ihm wenigstens angenähert.
Im Zweiten Teil wurde ausführlich untersucht, wie innerhalb der staatlichen Grenzen immer mehr Bürger von Normadressaten des Rechtsstaates zu Feinden eines nicht erklärten Krieges gegen den Terror werden. Im Dritten Teil wurden Versuche referiert, die Ordnung des Krieges in die Rechtsordnung der Staaten zu importieren und zugleich die völkerrechtliche Barriere zwischen menschenrechtlich geschütztem Frieden und nur von humanitären Erwägungen entschärftem Krieg zu verwischen. Immer häufiger scheint es unmöglich, noch zwischen Rechtsdurchsetzung und kriegerischer Gewalt zu unterscheiden. Im Ergebnis bleibt - so befürchten kritische Beobachter - der Bürger schutzlos gegenüber einem unangreifbaren und unkontrollierbaren Konglomerat kriegerischer staatlicher Mächte: eine Weltordnung, in der Krieg und Frieden nicht mehr zu trennen sind. Das Recht in »globaler Unordung« (Erhard Denninger). Kann ein Gericht da noch was richten?
Es wird dunkel wie im Mittelalter. Statt der Neufassung eines Ewigen Landfriedens erleben wir, wie das Völkerrecht ausfranst: Statt staatliche Gewalt zu begrenzen, gibt es immer neuen Gründen der gewaltsamen Selbstverteidigung Raum, die Menschenrechte als neue Weltbürgerrechte
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