Der globale Polizeistaat
binären Unterscheidung von Nationalem und Globalem.« So seien diese übernationalen Vorgänge und Probleme zwar weiterhin in den nationalen, von territorialer Souveränität geprägten Institutionen »verortet«. Andererseits »entziehen sie sich (dem Staat) durch einen Prozess der Entnationalisierung«. Der Nationalstaat in der Krisenmangel.
125 »Instanzen« zählt die Wissenschaftlerin in der Welt des Jahres 2008, die ähnlich wie der Internationale Strafgerichtshof völkerrechtlich frei schwebend über dem Kopf der Nationalstaaten zur weltweiten Problemlösung angetreten sind, sie alle nagen an der guten alten Westfälischen Souveränitätsidee. Doch - »ihre wachsende Zahl bedeutet nicht das Ende der Nationalstaaten. Vielmehr wird das Nationale allmählich in seine Einzelteile zerlegt.«
Die These der Weltordnungs-Wissenschaftlerin: Diese neuen Entwicklungen »weisen auf das Entstehen neuartiger Anordnungen hin, die neben älteren Strukturen wie dem Nationalstaat und den zwischenstaatlichen Systemen bestehen können«. Kein Wissenschaftler und kein Politiker, schon gar kein Jurist habe das noch in der Hand: »Wir erleben heute den Übergang von einer zentrierten nationalstaatlichen Struktur zu einer wachsenden Anzahl spezialisierter, zentrifugaler Verknüpfungen.«
Die »bündelnde Kraft« (Sassen) des Nationalstaats ist »zentrifugalen« Kräften gewichen, die Westfälische Staatenordnung fliegt auseinander. Manche, die wie der Philosoph Jürgen Habermas auf die Kraft der Menschenrechte als »Weltbürgerrechte« bauen, mögen diese aufhaltsame oder unaufhaltsame Entwicklung begrüßen, so wie es von Menschenrechtsvereinigungen begrüßt wird, dass die Macht des Internationalen Strafrechts sich über Immunität und Souveränitätsansprüche von Diktatoren wie dem per Haftbefehl verfolgten Präsidenten des Sudan Omar al-Bashir hinwegsetzt. Das Ende der staatlichen Souveränität westfälischer Art erscheint gerade fortschrittlichen Denkern als Befreiung des Menschen von obrigkeitlicher Gängelung.
Doch sie sollten sich nicht zu früh freuen. Die Forscherin Sassen sieht für die Menschen des modernen Völkerrechts eine eher bedrohliche Entwicklung: »Wir erkennen eine neuartige Segmentierung innerhalb des Staatsapparates. Einerseits ist da ein wachsender und zunehmend privatisierter exekutiver Bereich, der auf spezielle globale Projekte ausgerichtet ist, wie nationalistisch seine Reden auch klingen mögen. Andererseits beobachten wir eine Aushöhlung der Legislative, die - wenn überhaupt - nur noch für innenpolitische Fragen zuständig ist.« Die Amerikanerin mag die amerikanische Kriegführung gegen den Terror im Hinterkopf gehabt haben, in der private Kriegsunternehmen wie Blackwater unter Berufung auf die War Powers des Präsidenten auf dem Schlachtfeld unkontrolliert gewütet haben. Sie nimmt aber auch das amerikanische Antiterrorgesetz, den Patriot Act 47 , als Beispiel dafür, wie ein Polizeistaat entsteht: Durch die zunehmende Selbstermächtigung einer an internationalen Handlungsnotwendigkeiten orientierten Exekutive »erodieren die Persönlichkeitsrechte der Bürger«.
Staaten, die nicht mehr leben und noch nicht sterben können, die chronisch zerrissen sind zwischen internationalem Auftrag und nationaler Verantwortung, werden zur Gefahr für ihre Bürger. Die »wachsende Distanz« zwischen Staat und Bürgern manifestiert sich für die Wissenschaftlerin darin, dass sich Bürger in ihrem Staat nicht mehr zu Hause fühlen, ihn sogar zunehmend verklagen, sich als »Weltbürger« ihre individuelle »Ausstiegsstrategie« suchen. So werden Bürger heimatlos - und der Staat verliert sein Staatsvolk. In einem Gemeinwesen, das kein gemeinsames Projekt mehr hat, schwindet alle nationale Identität. So ein Gemeinwesen lässt sich nur noch mit Mühe durch eine Verfassung zusammenhalten. Für Staaten wie die Bundesrepublik oder auch die USA, die sich allein durch ihre Verfassung konstituieren, entfällt damit die Existenzgrundlage - und die Rechtsgrundlage ihrer Bürger.
Ende einer mehr als dreihundertjährigen Erfolgsgeschichte des Staates? Das Fazit der Bemühungen ums Völkerrecht im Zeitalter
des Terrorismus ist jedenfalls bedrohlich: Erst haben die Völkerrechtler die staatliche Souveränität immer weiter zurückgedrängt, um den Menschenrechten zum Durchbruch zu verhelfen. Am Ende stehen die Menschen im Dunkel des Mittelalters. Ohne Staat. Und ohne Rechte.
Vierter Teil
FRIEDEN?
Schritte zu einem
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