Der globale Polizeistaat
und Umweltschutz oder Katastrophenvorsorge ermutigt uns, die Methode der dispositionellen Diagnose, die bei gefährlichen Großanlagen angewendet wird, auf ihre Nützlichkeit zur rechtsstaatlichen Präzisierung der Gefahrenabwehr neuer Art zu überprüfen. Das Vorliegen von Dispositionen wird allgemein mit dem Formulieren von Testbedingungen überprüft, die an die Stelle der irrealen Konditionalsätze treten. Um zu überprüfen, wie der Reaktor reagieren würde, wenn ein Flugzeug auf ihn stürzen würde, kann man beispielsweise bestimmte Anforderungen an den Baustahl stellen, dessen Sicherheit durch behördlich überprüfte Qualitätstests wie in einem Examen bewiesen wird. Umfangreiche Kataloge von Grenzwerten, zu überprüfen in vollkommen undramatischen Situationen, definieren beispielsweise in den sogenannten »Technischen Anleitungen« den Aufsichtsbehörden, worauf sie bei ihrer täglichen Arbeit achten müssen. Auf diese Weise gelingt es, Dispositionsaussagen zu operationalisieren: Wie muss eine
Anlagenkomponente auf welche Testherausforderung reagieren, damit ich das Prädikat »ungefährlich« zuschreibe. Solche Zuschreibebedingungen heißen in der Sprachtheorie Reduktionssätze.
Der Mann, der als junger Referent im Bundesinnenministerium ganz wesentlich an der Auslegung und Präzisierung des Atomrechts und des Immissionsschutzrechts mitgearbeitet hat, sitzt heute wieder da. August Hanning, einer der Väter des technischen Sicherheitsrechts, ist nach Jahren im Bundeskanzleramt und beim Geheimdienst zurückgekehrt ins Innenressort, bei Schäuble ist er als Staatssekretär vorrangig für den Krieg gegen den Terror zuständig. Hanning hat das Vorsorgeprinzip vom Umweltschutz ins Polizeirecht gebracht. Nun kümmert er sich nicht mehr um Atomreaktoren, sondern um »Gefährder«. Seine Karriere erlaubt es uns, die Frage, um die es hier geht, zuzuspitzen: Kann man Bürger wie Atomreaktoren behandeln?
Atomkraftwerke haben den Vorteil, dass sie, will man sie testen, nicht einfach wegrennen oder sich verstecken können. Gleichwohl ist es weithin üblich, das Reduktionssatz-Verfahren auch auf Menschen anzuwenden. Wenn die Kulturbürokratie erfahren will, ob ein Gymnasiast die nötige Reife hat, veranstaltet sie Tests, genannt Abitur. Ob der Kandidat im Leben die richtigen, reifen, Antworten auf die wichtigen Fragen geben kann, wird mit Hilfe von Reduktionssätzen geprüft: Wir schreiben ihm die nötige Reife zu, wenn er auf die Frage, wann die Schlacht von Zama war, mit der Antwort »202 vor Christus« reagiert. Der Staat wendet Grenzwerte an, wenn er die Orthografiefehler im Abi-Aufsatz zum Maßstab für eine Aussage über die Disposition des Kandidaten macht, das Leben mit der notwendigen Regeltreue anzugehen. Jeder Psychologe wendet Testverfahren an, um über die verborgenen Neigungen seiner Patienten Auskunft zu bekommen.
Der Anspruch bei solcher Exploration des Menschen ist stets derselbe: in sein Inneres vorzudringen, um auf diese Weise zu erfahren, wie dieser konkrete menschliche Mechanismus künftig reagiert. Die Methoden der Pädagogik und Psychologie sind
dabei recht altmodisch. Gerade im Kampf gegen das Böse ist heute schon ganz anderes möglich.
Regelmäßig verkehrt der unauffällige Sicherheitstransporter auf der Landstraße zwischen der Justizvollzugsanstalt Waldeck und der nahe gelegenen Psychiatrischen Uni-Klinik Rostock. Dort angekommen, werden die Insassen, manche von ihnen aus Sicherheitsgründen gefesselt, unter Bewachung in Untersuchungsräume geführt. Dann beginnt die Erkundung des Bösen. Verurteilte Gewalttäter lassen sich von Hirnforschern den Kopf zurechtrücken und anschließend durch das Portal eines Scanners schieben. Dort hinein werden ihnen Bilder projiziert, Bilder, die bei gewöhnlichen Menschen Entsetzen auslösen, Bilder, die sexuell erregen oder Mitleid erwecken. Ist jemand entsetzt, erregt, mitleidig? Der Kernspintomograf registiert die Hirnaktivität und zeichnet sie auf. Neurowissenschaftler beugen sich über die Bilder, die der dröhnende Kernspin aus dem Kopf der Verbrecher liefert. Sieht man was?
Ja, sagen immer mehr Neuromediziner, das Böse könne man sehen. Jürgen Müller, Leiter der Forensischen Psychiatrie der Uni-Klinik Göttingen, untersucht seit Jahren psychopathische Probanden im Kernspintomografen. Er vermutet, dass ihre neuronalen Systeme, die für Impulskontrolle, Lernen aus Bestrafung und Entscheidungsfähigkeit wichtig sind, anders arbeiten als bei
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