Der Glucksbringer
sträubte sich mental dagegen, Rex’ Nachricht zu akzeptieren.
Wenn sie wenigstens hätte weinen können. Vielleicht hätten die Tränen Erleichterung gebracht, aber sie war wie betäubt, physisch und psychisch abgestumpft. Anfangs hatte sie noch gehofft, dass es sich um eine Verwechslung handelte, und sich mit dem australischen Kriegsministerium in Verbindung gesetzt. Von dort wurde ihr jedoch bestätigt, dass Bordingenieur Michael Westaway im Zuge einer Militäraktion als vermisst gemeldet worden war. Mehr konnte man ihr auch nicht sagen. Vermisst im Zuge von Kriegshandlungen. Das war die allgemeingültige Formulierung, die das Schlimmste vermuten ließ. Lag Mike tot oder verwundet
auf irgendeinem der ungezählten Schlachtfelder? War er gefangen genommen oder von Partisanen befreit worden? Man konnte nur das Beste hoffen, ob es zutraf, würde sich erst nach Wochen oder gar Monaten angstvollen Wartens herausstellen.
Sie ließ resigniert die Schultern sinken, stützte den Kopf in die Hände und grübelte. Was sollte bloß einmal aus ihr und ihrem Baby werden? Sie war inzwischen im vierten Monat schwanger und wusste, dass sich ihr Zustand nicht mehr lange geheim halten ließe. In spätestens sechs Wochen würde die Bombe platzen, falls Mr. Cotter nicht schon früher die Erleuchtung käme. Und ihr Chef würde zweifellos nicht lange fackeln: Nach seinem Dafürhalten gehörten Flittchen wie sie postwendend vor die Tür gesetzt! O Gott, was für eine Blamage!
Was sollte sie bloß tun? Was, wenn sie keinen anderen Job fände? Sie hatte zwar ein bisschen gespart, aber das reichte nicht, um sich mit dem Baby eine Weile über Wasser zu halten. In diesem Moment realisierte sie mit schmerzlicher Deutlichkeit das Ausmaß der Katastrophe. Was, wenn Mike tatsächlich tot war? Verlustängste und drohende Zukunftssorgen überkamen sie, höhlten sie innerlich aus. Unversehens füllten sich ihre Augen mit Tränen. Von Weinkrämpfen geschüttelt, schleppte sie sich zum Bett, warf sich auf die Tagesdecke und schluchzte, bis sie keine Tränen mehr hatte und in einen traumlosen Schlaf hinüberglitt.
Peggy saß Jenny in der Firmenkantine gegenüber und wärmte ihre Hände an einer heißen Tasse Tee. Sie betrachtete ihre Freundin kritisch, registrierte die eingefallenen Wangen, die glanzlosen Augen und wartete, bis
Jenny ihren Tee ausgetrunken hatte, bevor sie anhob: »Hör mal, Liebes, und was machst du jetzt? Du hast die Liste in der Zeitung gesehen und weißt, dass Mike eventuell noch am Leben ist. Womöglich ist er irgendwo in Kriegsgefangenschaft oder so. Und nachdem die Alliierten vor Berlin stehen, kann der Krieg in Europa nicht mehr lange dauern.«
Jenny bedachte ihre Freundin mit einem matten Lächeln. »Das mag ja alles sein. Vielleicht ist er auch verwundet. Es ist grässlich zermürbend, wenn man nichts Genaues weiß. Cotter beäugt mich zunehmend skeptisch. Ich glaube, er wittert allmählich was.«
»Dieser Armleuchter. Er hat Betty Weatherspoon von jetzt auf gleich an die Luft gesetzt, als er merkte, dass sie... na ja, du weißt schon. Jenny«, drängte Peggy, »du solltest den Kontakt zu den Westaways suchen. Ich bin sicher, sie haben Verständnis für deine Situation. Sie werden dich und das Kind unterstützen. Glaub mir, sie freuen sich bestimmt riesig, wenn sie erfahren, dass sie wieder Großeltern werden.«
»Ich kann nicht«, versetzte Jenny dumpf. »Ich bring das einfach nicht. Was meinst du, was die dann von mir denken?« Während sie sprach, zeichneten sich auf ihren Wangen hektisch rote Flecken ab.
»Sei nicht albern. Es ist Krieg, und so was passiert nun mal. Das kommt in den besten Familien vor, und die Westaways leben bestimmt nicht hinterm Mond. Das sind sicher nette, verständnisvolle Leute. Du und Mike, ihr liebt euch, ihr hattet vielversprechende Pläne für eine gemeinsame Zukunft, und da ist es eben passiert«, sagte sie auf ihre unverblümt direkte Art. »Wenn es hart auf hart kommt, bleibt dir letztlich gar nichts anderes übrig, als den Kontakt mit seiner Familie aufzunehmen.
Du brauchst finanzielle Unterstützung, ein Dach über dem Kopf – und seine Familie kann dir beides bieten.«
»Und wenn sie nun denken, ich hätte es bewusst darauf angelegt, Mike reinzulegen? Wäre schließlich nicht das erste Mal, dass eine Frau mit diesen Tricks arbeitet.«
»Stimmt, aber du weißt doch selbst, dass es nicht so war, oder?« Peggy bemerkte den trotzigen Zug, der sich um die Kinnpartie ihrer
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