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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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hinhielt, beantwortete er diese Geste mit Kopfschütteln und einem zu lauten Lachen. «Nehmen Sie mich nicht zu ernst. Mich reizt es immer, müssen Sie wissen, wenn die Leute angesichts meiner amputierten Beine eine tragische Miene aufsetzen.»
    «Er macht sich über mich lustig», dachte der andere.
    «Nehmen Sie nichts tragisch außer dem Glück. Denken Sie gut darüber nach, Mersault, Sie haben ein reines Herz. Denken Sie daran.» Dann sah er ihm in die Augen und setzte nach kurzer Zeit hinzu: «Und Sie haben auch zwei Beine, was nichts schaden kann.»
    Darauf lächelte er und setzte eine Schelle in Bewegung.
    «Verschwinden Sie, mein Junge, ich muß jetzt Pipi machen.»
     

 V
     
    Als er, mit allen Gedanken noch bei Zagreus, an jenem Sonntagabend wieder nach Hause kam, hörte Mersault, bevor er sein Zimmer betrat, stöhnende Laute, die aus der Wohnung Cardonas, des Faßbinders, kamen. Er klopfte. Niemand antwortete ihm. Die Klagelaute hielten an. Ohne zu zögern trat er ein. Der Faßbinder lag zusammengekrümmt auf seinem Bett und schluchzte hemmungslos wie ein Kind. Zu seinen Füßen lag die Fotografie einer alten Frau. «Sie ist tot», stieß er, zu Mersault gewendet, mit großer Anstrengung hervor. Das stimmte, aber es war schon lange her.
     
    Er war taub, fast stumm, bösartig und brutal. Bis jetzt hatte er mit seiner Schwester gelebt. Aber seiner Bosheit und seines Despotismus überdrüssig hatte sie sich zu ihren Kindern geflüchtet. Und er war allein geblieben, so hilflos, wie nur ein Mann es sein kann, der zum ersten Mal seinen Haushalt und seine Küche allein besorgen muß. Seine Schwester hatte Mersault von ihren Streitereien erzählt, als sie ihn eines Tages auf der Straße traf. Er war dreißig Jahre alt, klein von Gestalt und eher schön zu nennen. Seit seiner Kindheit hatte er bei seiner Mutter gelebt. Sie war das einzige Wesen, das ihm —eine mehr abergläubische als begründete — Furcht eingeflößt hatte. Er hatte sie mit seiner dürftigen Seele geliebt, das heißt auf eine zugleich raube und heftige Art, und der beste Beweis für seine Anhänglichkeit war dabei, wie er die alte Frau ärgerte, indem er mit großem Aufwand die schlimmsten Grobheiten über die Pfarrer und die Kirche losließ. Wenn er so lange bei seiner Mutter geblieben war, so auch deshalb, weil er niemals einer Frau das Gefühl ernsthafter Zuneigung eingeflößt hatte. Gelegentliche Abenteuer oder der Besuch eines Bordells gaben ihm aber immerhin das Recht, sich als Mann zu fühlen.
     
     Die Mutter starb. Von da an lebte er mit seiner Schwester zusammen. Mersault hatte ihnen das Zimmer vermietet, in dem sie wohnten. Beide nunmehr allein, quälten sie sich mühsam durch ein langes schmutziges, düsteres Dasein. Nur mit Schwierigkeit konnten sie miteinander sprechen. So verbrachten sie ganze Tage, ohne auch nur ein Wort zu wechseln. Nun aber war sie fortgegangen. Er war zu stolz, um sich zu beklagen und sie zu bitten, sie solle doch wiederkommen: er lebte allein. Mittags aß er im Restaurant, abends lebte er zu Hause von kaltem Aufschnitt. Er wusch seine Wäsche und seine blauen Arbeitsanzüge selbst. Sein Zimmer aber ließ er in furchtbarem Schmutz verkommen. Anfangs hatte er manchmal am Sonntag zu einem Lappen gegriffen und in der Wohnung etwas Ordnung zu machen versucht. Aber Anzeichen männlicher Naivität, ein Kochtopf auf dem einst mit Blumen und anderen Dingen geschmückten Kamin, offenbarten die Vernachlässigung, die allem zuteil wurde. Was er Ordnung machen nannte, bestand darin, die Unordnung zu vertuschen, alles was herumlag, hinter Kissen zu verstecken oder die verschiedensten Dinge bunt durcheinander auf dem Büffet aufzustellen. Im übrigen war ihm auch das allmählich zuviel geworden, er machte nicht einmal mehr sein Bett, sondern schlief mit dem Hund auf den schmutzigen, übelriechenden Decken. Seine Schwester hatte zu Mersault gesagt: «In den Cafés spielt er sich auf. Aber der Inhaber hat mir gesagt, er habe ihn beim Wäschewaschen Tränen vergießen sehen.» Und tatsächlich erfaßte diesen Mann, so verstockt er war, zu gewissen Stunden eine Art von Entsetzen, das ihn die Tiefe seiner Verlassenheit ermessen ließ. Gewiß, aus Mitleid habe sie mit ihm gelebt, sagte sie zu Mersault. Aber er hinderte sie daran, sich mit dem Mann zu treffen, den sie liebte. In ihrem Alter allerdings hatte das nicht mehr soviel Bedeutung. Es war ein verheirateter Mann. Er brachte seiner Freundin Blumen, die er an den Hecken

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