Der glückliche Tod
«Man darf das Leben nie mit den Küssen eines Krüppels beschmutzen.»
Im gleichen Augenblick hatte Zagreus die kleine Truhe geöffnet, die dicht neben dem Kamin stand, und auf eine schwere Kassette aus dunklem Stahl gedeutet, in der der Schlüssel steckte. Auf der Kassette lag ein weißer Briefumschlag und darauf ein großer schwarzer Revolver. Auf Mersaults unwillkürlich neugierigen Blick antwortete Zagreus nur mit einem Lächeln. Die Sache war sehr einfach. An Tagen, an denen er allzu stark die Tragödie empfand, durch die ihm sein Leben geraubt worden war, legte er diesen Brief, den er nicht datiert hatte und der einen Teil seines Verlangens zu sterben darstellte, unmittelbar vor sich hin. Dann legte er die Waffe auf den Tisch, schob sie dichter heran und preßte seine Stirn dagegen, bewegte seine Schläfen daran und kühlte an dem kalten Eisen das Fieber seiner Wangen. Lange verharrte er so, ließ die Finger über den Abzug gleiten, betastete den Verschluß, bis alles um ihn her in Ruhe versank und er sich, schon schläfrig geworden, mit seinem ganzen Sein an das Gefühl des kalten, salzig schmeckenden Eisens verlor, aus dem jederzeit der Tod hervorgehen konnte. Wenn er in dieser Weise spürte, daß es genügen würde, den Brief zu datieren und zu schießen, und sich der absurden Leichtigkeit des Selbstmordes bewußt wurde, war seine Phantasie genügend angeregt, um ihm das ganze Grauen vor Augen zu stellen, das die Negation des Lebens für ihn bedeutete, so daß er all sein Verlangen, noch weiter in Würde und Schweigen die Lebensflamme zu bewahren, in seinen Halbschlaf mit hinübernahm. Wenn er dann mit einem von schon bitterem Speichel angefüllten Mund erwachte, leckte er an dem Lauf der Waffe, führte seine Zunge in die Mündung ein und stöhnte schließlich in einem unmöglichen Glücksgefühl.
«Gewiß, ich habe mein Leben verfehlt. Aber damals hatte ich recht: Alles für das Glück, alles gegen die Welt, die uns mit ihrer Dummheit und ihrer Gewalttätigkeit umgibt. Sehen Sie, Mersault», setzte Zagreus schließlich lachend hinzu, «die ganze Jämmerlichkeit und Grausamkeit unserer Zivilisation drückt sich in der blödsinnigen Behauptung aus, glückliche Völker hätten keine Geschichte.»
Es war inzwischen sehr spät geworden. Mersault hatte dafür kein klares Gefühl mehr. Ihm schwirrte der Kopf von fiebriger Erregung. In seinem Mund spürte er die Hitze und Schärfe der Zigaretten, die er geraucht hatte. Das Licht um ihn her wirkte mit dabei. Zum ersten Mal seit Beginn der Erzählung blickte er Jetzt zu Zagreus hinüber. «Ich glaube, ich verstehe», sagte er.
Ermüdet von der langen Anstrengung atmete der Krüppel jetzt schwer. Nach einer Pause brachte er indessen noch mit Mühe hervor:
«Ich würde meiner Sache gern sicher sein. Lassen Sie mich nicht sagen, Geld bedeute Glück. Ich meine nur, daß für eine gewisse Klasse von Menschen das Glück möglich ist (wofern sie über Zeit verfügen) und daß man dadurch, daß man Geld hat, sich vom Geld befreit.»
Er war auf seinem Stuhl und unter seinen Decken zusammengesunken. Das Dunkel hatte sich wieder verdichtet, und Mersault sah jetzt von Roland fast nichts mehr. Ein langes Schweigen folgte, und Patrice, der den Kontakt wieder aufnehmen, sich in der Dunkelheit der Gegenwart des anderen versichern wollte, sagte im Aufstehen gleichsam tastend:
«Ein schönes Wagnis auf alle Fälle.»
«Ja», sagte der andere mit dumpfer Stimme. «Und es ist besser, auf dieses Leben zu setzen als auf das andere. Für mich sieht das freilich anders aus.»
«Ein Haufen Elend», dachte Mersault. «Eine Null in der Welt.»
«Seit zwanzig Jahren habe ich ein gewisses Glück nicht mehr erleben können. Dieses Leben, das mich verzehrt, habe ich niemals vollkommen kennengelernt, und was mich am Tode erschreckt, ist die Gewißheit, die er mir geben wird, daß mein Leben ohne mich abgelaufen ist. Am Rande, verstehen Sie?»
Ohne Übergang klang ein sehr junges Lachen aus dem Dunkel hervor:
«Das bedeutet, Mersault, daß ich im Grunde bei meinem Zustand immer noch Hoffnung habe.»
Mersault trat ein paar Schritte näher an den Tisch.
«Denken Sie an alles das», sagte Zagreus. «Denken Sie daran. »
Mersault fragte nur: «Kann ich Licht machen?»
«Wenn Sie wollen.»
Rolands Nasenflügel und seine runden Augen zeichneten sich in der strahlenden Helligkeit nur noch fahler ab. Er atmete mit Mühe. Als Mersault ihm die Hand
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