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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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noch, während er ihm die Fotografie hinhielt, mit stockender Stimme hinzu: «Ich habe sie geliebt.» Mersault übersetzte für sich: «Sie liebte mich», «Sie ist tot», und er verstand richtig: «Ich bin allein.» — «Zu ihrem Geburtstag hatte ich ihr dieses Fäßchen gemacht.» Auf dem Kamin stand ein mit Messingbändern und einem blinkenden Hahn versehenes Fäßchen aus Holz. Mersault ließ die Schulter Cardonas los, der auf seine schmutzigen Kissen zurücksank. Unter dem Bett drang ein tiefer Seufzer hervor und ein Geruch, der einem den Atem verschlug. Der Hund kam langsam, mit durchgedrücktem Kreuz, hervorgekrochen. Er legte seinen Kopf mit den langen Ohren und den goldschimmernden Augen auf Mersaults Knie. Mersault betrachtete das Fäßchen. In dem verschmutzten Zimmer, in dem dieser Mann mit Mühe atmete, und mit der Wärme des Hundes unter seinen Fingern, schloß er die Augen über der Verzweiflung, die zum ersten Mal seit langem in ihm aufbrandete wie ein Meer. Angesichts von soviel Elend und Einsamkeit sagte er sich heute: «Nein.» Und in dem tiefen Jammer, der ihn erfüllte, spürte Mersault deutlich, daß sein Aufbegehren das einzig Wahre in ihm und der Rest nur Unvermögen und schwächliches Nachgeben war. Die Straße, die gestern unter seinen Fenstern lebte, quoll abermals über von Lärm. Aus den Gärten unterhalb der Terrasse stieg Grasgeruch auf. Mersault bot Cardona eine Zigarette an, und beide rauchten wortlos. Die letzten Trambahnen kamen vorbei und mit ihnen die noch lebendige Erinnerung an die Menschen und an die Lichter. Cardona schlief ein und schnarchte bald mit seiner noch von Tränen gefüllten Nase. Der Hund, der zusammengerollt zu Mersaults Füßen lag, rührte sich manchmal und seufzte im Traum. Bei jeder Bewegung stieg sein Geruch zu Mersault auf. Er selber lehnte mit dem Rücken an der Wand und versuchte, in seinem Herzen die Revolte gegen das Leben zu unterdrücken. Die Lampe qualmte, blakte und erlosch schließlich mit schauderhaftem Petroleumgestank. Mersault döste vor sich hin und kam wieder zu sich, den Blick starr auf die Weinflasche gerichtet. Mit großer Anstrengung erhob er sich, ging an das rückwärtige Fenster und blieb dort regungslos stehen. Aus dem Herzen der Nacht stiegen Rufe und Schweigen zu ihm empor. An den Grenzen der Welt, die hier im Schlummer lag, rief ein Schiff mit langgezogenem Ton die Menschen zu Aufbruch und Neubeginn.
     
    Am nächsten Tage tötete Mersault Zagreus, kehrte nach Hause zurück und schlief den ganzen Nachmittag. Er erwachte mit Fieber. Und am Abend, immer noch im Bett liegend, ließ er den Arzt des Viertels kommen, der eine Grippe diagnostizierte. Ein Angestellter von seinem Büro, der sich nach ihm erkundigen sollte, nahm sein Gesuch um Urlaub mit. Ein paar Tage darauf war alles in Ordnung: ein Zeitungsartikel, eine Untersuchung. Alles rechtfertigte Zagreus' Tat. Marthe besuchte Mersault und sagte seufzend: «An manchen Tagen möchte man an seiner Stelle sein. Aber manchmal braucht man mehr Mut, um zu leben, als um sich umzubringen.» Eine Woche darauf schiffte sich Mersault nach Marseille ein. Alle waren der Meinung, er habe vor, sich in Frankreich zu erholen. Aus Lyon erhielt Marthe einen Brief, in dem Mersault in aller Form mit ihr brach und der sie nur in ihrer Eigenliebe traf. Zugleich teilte er ihr mit, daß ihm in Mitteleuropa eine ungewöhnlich günstige Position angeboten worden sei. Marthe schilderte ihm postlagernd ihren Schmerz. Dieser Brief erreichte Mersault nie, da dieser am Tage nach seiner Ankunft in Lyon einen heftigen Fieberanfall bekam und eiligst einen Zug nach Prag bestieg. Dabei hatte Marthe ihm mitgeteilt, daß Zagreus, nach ein paar Tagen im Leichenschauhaus, begraben worden sei und daß man viele Kissen habe verwenden müssen, um dem Stumpf seines Körpers im Sarg genügend Halt zu geben.
     

  Zweiter Teil

Der bewußte Tod
     
     «Ich möchte ein Zimmer», sagte der Mann auf deutsch.
    Der Portier, vor seinem Schlüsselbrett, war durch einen breiten Tisch von der Halle getrennt. Er sah den Fremden, der, einen grauen Regenmantel über die Schultern gehängt, soeben eingetreten war und mit abgewandtem Kopf zu ihm sprach, prüfend an.
    «Gewiß, mein Herr. Für eine Nacht?»
    «Nein. Ich weiß noch nicht.»
    «Wir haben Zimmer zu achtzehn, zu fünfundzwanzig und zu dreißig Kronen.»
    Mersault blickte auf das Prager Gäßchen, das man vor der Glastür des Hotels liegen sah. Er hatte die Hände in den

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