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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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am Stadtrand gepflückt hatte, oder Orangen und Liköre, die er auf dem Jahrmarkt gewann. Freilich, schön war er nicht. Aber «mit Schönheit kann man sich keinen Salat anmachen», sagte sie, und er war ein braver Mensch. Sie hing an ihm und er an ihr. Ist das etwas anderes als Liebe? Sie wusch ihm seine Wäsche und gab sich Mühe, ihn sauber zu halten. Er hatte die Gewohnheit, dreieckig gefaltete Taschentücher um den Hals zu tragen: sie sorgte dafür, daß sie sehr weiß waren, und das war eine seiner Freuden.
     
    Der andere, ihr Bruder, wollte nicht, daß sie ihren Freund bei sich sah. Sie mußten sich heimlich treffen. Einmal hatte sie ihn im Hause gehabt. Als der Bruder sie mit ihm erwischte, hatte es furchtbaren Streit gegeben. Das zum Dreieck gefaltete Taschentuch war nach ihrem Aufbrach in einer schmutzigen Ecke liegengeblieben, und sie hatte sich zu ihrem Sohn geflüchtet. Mersault dachte an dieses Taschentuch angesichts des verkommenen Zimmers, das er vor sich sah.
     
    Seinerzeit hatte man dennoch den Faßbinder wegen seines Alleinseins bedauert. Er hatte zu Mersault etwas von einer eventuellen Heirat gesagt. Es handelte sich um eine ältere Frau. Und zweifellos hatte sie sich durch die Hoffnung auf junge, kraftvolle Liebesbezeigungen verlockt gefühlt... Sie hatte sie vor der Heirat auch erhalten. Aber nach einiger Zeit gab ihr Liebhaber den Plan auf mit dem Bemerken, er finde sie zu alt. Und so war er denn in diesem kleinen Haus im Viertel wieder allein. Allmählich griff der Schmutz bei ihm um sich, belagerte ihn, brandete an sein Bett und überflutete es schließlich auf eine Art, daß ihm nicht mehr beizukommen war. Das Haus war zu häßlich. Für einen armen Mann jedoch, dem es daheim nicht gefällt, gibt es ein ansprechenderes, reicheres, strahlender beleuchtetes und immer gastliches Haus: das Café. In den Cafés hier im Viertel ging es besonders lebhaft zu. Es herrschte dort jene Herdenwärme, die die letzte Zuflucht vor den Schrecken der Einsamkeit und für die unbestimmten Bedürfnisse ist, die daraus erwachsen. Der Stumme erwählte sie als ständiges Domizil. Mersault erblickte ihn dort allabendlich. Mit ihrer Hilfe zog er den Augenblick der Heimkehr so lange wie möglich hinaus. In ihnen fand er seinen Platz unter den Menschen. An diesem Abend hatten offenbar die Cafés nicht genügt. Als er nach Hause kam, mußte er wohl die Fotografie hervorgeholt und mit ihr das Echo der toten Vergangenheit noch einmal heraufbeschworen haben. Er fand die wieder, die er geliebt und geärgert hatte. In dem scheußlichen Zimmer, allein mit seinem unnützen Leben, hatte er seine letzte Kraft zusammengenommen und sich die Vergangenheit, die sein Glück gewesen war, noch einmal bewußt gemacht. Man mußte es wenigstens glauben, und bei dem Zusammenprall dieser Vergangenheit und seiner elenden Gegenwart war ein Funken des Göttlichen aufgesprüht, denn er hatte ja zu weinen angefangen.
     
    Wie jedesmal, wenn er sich einer brutalen Bekundung des Lebens gegenüber fand, fühlte Mersault sich machtlos angesichts dieses kreatürlichen Leidens, das er gleichwohl respektierte. Es setzte sich auf die schmutzigen, zerknautschten Decken und legte Cardona die Hand auf die Schulter. Vor ihm, auf dem Wachstuch, mit dem der Tisch bedeckt war, befanden sich in wirrem Durcheinander ein Spirituskocher, eine Flasche Wein, Brotkrumen, ein Stück Käse und ein Werkzeugkasten. Von der Decke hingen Spinnweben herab. Mersault, der seit dem Tod seiner Mutter nie wieder in dieses Zimmer gekommen war, ermaß an dem Schmutz und der schmierigen Armut, die hier herrschten, welchen Weg dieser Mann durchlaufen hatte. Das Fenster, das auf den Hof ging, war geschlossen, das andere kaum halboffen. Die Hängelampe, an deren Schirm ein Kartenspiel in Miniaturformat hing, warf ihren ruhigen runden Lichtkreis auf den Tisch, auf Mersaults und Cardonas Füße und einen Stuhl, der, etwas von der Wand abgerückt, ihnen gegenüber stand. Cardona hatte indessen die Fotografie in die Hände genommen, schaute sie an, küßte sie noch einmal und sagte mit seiner brüchigen Stimme: «Arme Mama.» Aber im Grunde bemitleidete er damit sich selbst. Sie war auf dem häßlichen Friedhof begraben, den Mersault gut kannte, am anderen Ende der Stadt.
     
    Er wollte gehen. Jede Silbe betonend, um sich verständlich zu machen, sagte er:
     
    «So dür-fen Sie nicht blei-ben.»
    «Ich habe keine Arbeit mehr», brachte der andere mühsam
     
     hervor und setzte

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