Der glückliche Tod
indessen:
«Ihr friert doch nicht?»
«Nein», sagt Rose. «Und im übrigen ist ja das gerade so schön.»
Claire ist aufgestanden, hat ihre Hände auf die Mauer gelegt und ihr Gesicht zum Himmel emporgekehrt. Angesichts von allem Primitiven und Erhabenen, das auf der Welt besteht, verwechselt sie ihr Leben mit ihrem Verlangen nach Leben und vermischt ihre Hoffnung mit dem Lauf der Sterne. Jäh wendet sie sich um und sagt zu Patrice:
«Wenn man an guten Tagen dem Leben Vertrauen schenkt, zwingt man es, dem auch zu entsprechen.»
«Ja», sagt Patrice, ohne sie anzusehen.
Eine Sternschnuppe fällt. Dahinter strahlt das Licht eines fernen Leuchtturms durch die inzwischen noch schwärzer gewordene Nacht. Menschen kommen schweigend den Weg herauf. Man hört sie schreiten und heftig dabei atmen. Kurz danach dringt Blumenduft herauf.
Die Welt sagt immer nur ein und dasselbe. Auf diese geduldige Wahrheit aber, die von einem Stern an den anderen weitergegeben wird, gründet sich eine Freiheit, die uns von uns selbst und den anderen entbindet, doch auch auf jene andere geduldige Wahrheit, die Tod mit Tod verbindet. Patrice, Catherine, Rose und Claire werden sich dann des Glückes bewußt, das ihnen aus ihrer Hingabe an die Welt erwächst. Wenn diese Nacht die Gestalt ihres Schicksals spiegelt, so bewundern sie daran, daß es zugleich körperlich und geheimnisvoll ist und daß sich auf seinen Zügen Tränen und Sonnenschein mischen. Und ihr von Schmerz und Freude erfülltes Herz vermag jene zwiefache Lehre zu begreifen, die auf den glücklichen Tod hinführt.
Es ist jetzt spät geworden, schon Mitternacht. Auf dem Antlitz dieser Nacht, das wie die Ruhe und das Denken der Welt selber ist, zeigen ein dumpfes Schwellen und ein Rauschen von Sternen das nahende Erwachen an. Von dem mit Gestirnen überladenen Himmel fällt zitterndes Licht herab. Patrice schaut die Freundinnen an: Catherine, die mit zurückgelehntem Kopf auf der Mauer hockt, Rose, die auf dem Liegestuhl kauernd die Hände über Gula hinstreckt, Claire, die mit ihrer wie ein weißer Fleck wirkenden, vorgewölbten Stirn steif an der Mauer steht: junge Wesen, befähigt zum Glück, die ihre Jugend miteinander austauschen und ihre Geheimnisse bewahren. Er ist nahe an Catherine herangetreten und blickt über die himmelsgleiche Rundung ihrer Schulter aus Fleisch und Sonne hinweg. Auch Rose hat sich der Mauer genähert, und alle vier haben die Welt vor sich. Es ist, als ob der plötzlich kühler gewordene Nachttau auf ihren Stirnen alle Zeichen ihrer Einsamkeit auslöschte und sie, von sich selber befreit durch diese bewegte, flüchtige Taufe, der Welt von neuem schenkte. Zu dieser Stunde, in der die Nacht von Sternen überfließt, zeichnen sich ihre Gebärden in unbewegter Starre in das große stumme Antlitz des Himmels ein. Patrice hebt den Arm der Nacht entgegen, umfaßt in seiner Begeisterung die Sternengarben, das von seinem Arm durchschnittene Wasser des Himmels und Algier zu seinen Füßen und schlingt es alles um sie wie einen dunkel glitzernden Mantel aus Muscheln und Edelsteinen.
Im Morgengrauen rollte Mersaults Wagen mit abgeblendeten Scheinwerfern die Küstenstraße entlang. Als er Algier verließ, hatte er ein paar Milchwagen eingeholt und überholt, und der aus warmem Schweiß und Stalldunst gemischte Pferdegeruch hatte ihm die Morgenkühle noch wohltuender zum Bewußtsein gebracht. Noch war alles nachtschwarz. Ein letzter Stern zerschmolz langsam am Himmel, und auf der im Dunkeln leuchtenden Straße nahm er nur das Geräusch des Motors, das der Stimme eines wohlig atmenden Tieres glich, und manchmal etwas weiter in der Ferne den Hufschlag eines Pferdes und das Geschepper eines mit Blechkannen beladenen Wagens wahr, bis er vor dem schwarzen Hintergrund der Straße an dem vierfachen hellen Aufblitzen die Eisen an den Füßen des Pferdes erkannte. Er fuhr jetzt schneller, und die Nacht wurde rascher zum Tage.
Aus der Tiefe des Dunkels zwischen den Hügeln von Algier glitt das Auto auf eine freie Straße über dem Meer, wo der Morgen sich vollendete. Mersault trieb den Wagen auf höchste Touren. Auf dem taufeuchten Untergrund vervielfältigten sich die leichten Sauggeräusche der Räder. An jeder der zahllosen Kurven brachte die Bremse die Pneus zu schrillem Aufheulen, und auf der Geraden überdeckte dann wieder das tiefe Brummen des Motors beim Höherschalten einen Augenblick lang die schwachen Stimmen des Meeres, die
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