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Der glückliche Tod

Der glückliche Tod

Titel: Der glückliche Tod Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Albert Camus
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gelagert. Die anderen sitzen auf dem Diwan. Ein dichter Nebel liegt jetzt über Stadt und Hafen. Aber die Schlepper nehmen ihre Arbeit wieder auf, und ihre dumpfen Rufe tragen etwas von dem Teer- und Fischgeruch, der Welt der roten und schwarzen Muscheln, der rostigen Poller und mit Algen behafteten Ketten, die dort unten erwacht, bis hier herauf. Wie alle Tage ertönt der männliche, brüderliche Appell eines Lebens, das nach Kraftentfaltung schmeckt und dessen Verlockung oder unmittelbare Aufforderung hier oben jeder spürt. Eliane sagt traurig zu Rose:
     
    «Auch Sie sind im Grunde wie ich.»
    «Nein», sagt Rose, «ich versuche nur, glücklich zu sein, und zwar so glücklich wie möglich.»
    «Und die Liebe ist nicht das einzige Mittel dazu», bemerkt Patrice, ohne sich umzudrehen.
    Er mag Eliane sehr gern und fürchtet, ihr vorhin Kummer gemacht zu haben. Aber er versteht Rose, wenn sie glücklich sein will.
    «Das ist ein Ideal der Mittelmäßigkeit», meint Eliane.
    «Ich weiß nicht, ob es ein Ideal der Mittelmäßigkeit ist, aber auf alle Fälle ist es ein gesundes Ideal Und das, wissen Sie...»
     
     
     Patrice fährt in seiner Rede nicht fort. Rose hat ein bißchen die Augen zugemacht. Gula ist ihr auf die Knie gesprungen, und träge den Kopf des Tieres streichelnd, zelebriert Rose das Vorspiel der geheimen Vermählung, bei der die Katze mit den halbgeschlossenen Augen und die unbeweglich sitzende Frau sich mit dem gleichen Blick ein gleiches Universum erschließen. Jeder träumt für sich zwischen den langgezogenen Rufen der Schlepper vor sich hin. Rose läßt das Schnurren der in ihrem Schoß zusammengerollten Gula zu sich aufsteigen. Die Hitze liegt schwer auf ihren Augen und läßt sie in ein Schweigen versinken, das einzig das Pochen ihres Blutes belebt. Die Katzen schlafen ganze Tage lang und lieben vom ersten Stern bis zum Morgengrauen. Ihre Wollust bereitet Schmerzen und ihr Schlaf ist dumpf. Sie wissen auch, daß der Körper eine Seele besitzt, an der die Seele nicht teilhat.
     
    «Ja», sagt Rose und schlägt die Augen auf, «glücklich sein, und zwar so glücklich wie möglich.»
     
    Mersault dachte an Lucienne Raynal. Als er kurz zuvor gesagt hatte, die Frauen auf den Straßen seien so schön gewesen, wollte er vor allem sagen, daß eine Frau ihm schön vorgekommen sei. Er war ihr bei Freunden begegnet. Vor einer Woche waren sie zusammen ausgegangen und, da sie nichts zu tun hatten, an einem schönen warmen Vormittag auf den Boulevards am Hafen entlanggewandert. Sie hatte den Mund nicht aufgemacht, und Mersault hatte sich, als er sie nach Hause zurückbegleitete, dabei überrascht, wie er ihr lange die Hand drückte und sie anlächelte. Sie war groß, trug keinen Hut, hatte ein weißes Leinenkleid an und offene Sandalen an den Füßen. Auf den Boulevards hatten sie im Gehen gegen einen leichten Wind angekämpft. Sie setzte ihren Fuß flach auf die heißen Steinplatten und stieß sich dort gleichsam ab, um sich kaum merklich gegen den Wind zu stemmen. Bei dieser Bewegung legte sich das Kleid fest an ihren Körper an, so daß sich ihr flacher, leicht geschwungener Leib darunter abzeichnete. Mit ihrem zurückgekämmten blonden Haar, ihrer kleinen geraden Nase und der prachtvollen Wölbung ihrer Brüste verkörperte und bestätigte sie ein geheimes Einverständnis, das sie mit der Welt verknüpfte und ihre Umwelt auf ihre Bewegungen ausrichtete. Wenn sie ihre Handtasche in der rechten Hand schwenkte, an der sie ein gegen den Verschluß klimperndes silbernes Armband trug, die Linke über ihren Kopf hob, um sich gegen die Sonne zu schützen, und die Spitze ihres rechten Fußes noch den Boden berührte, aber schon bereit war, ihn zu verlassen, kam es Patrice so vor, als verbinde sie sich durch ihre Gebärden mit der Welt.
     
    Dann empfand er die geheimnisvolle Übereinstimmung, in der sich seine Schritte denen Luciennes anpaßten. Sie schritten zusammen aus, ohne daß es ihm Mühe machte, sich mit ihr im Einklang zu befinden. Zweifellos wurde die Harmonie dadurch erleichtert, daß Lucienne diese flachen Schuhe trug. Zudem aber bestand in ihrer beider Gang etwas Gemeinsames in der Schrittlänge und der Geschmeidigkeit. Gleichzeitig stellte Mersault Luciennes Schweigsamkeit und ihren verschlossenen Gesicht sausdruck fest. Er dachte, sie sei womöglich wenig gescheit, und freute sich darüber. Es liegt etwas Göttliches in der Schönheit ohne Geist, und Mersault hatte mehr Sinn dafür als irgendein

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