Der goldene Greif
kannst auch du nicht reiten. Es duldet niemanden auf seinem Rücken. Außerdem ist er das Wer t vollste, das du in ganz Imaran finden kannst, wolltest du auch meine ganze Schatzkammer gegen ihn vergle i chen. Wähle eine der Stuten! Sie sind schnell wie der Wind. Nirgendwo wirst du ein bess e res Pferd finden als eine von ihnen. Sie sind die Krone meiner Zucht!“
Doch Raigo antwortete nicht. Er schaute in die feurigen Augen des Hengstes, und dieser erwiderte seinen Blick, als würde er durch einen Bann gehalten. Ein zitter n des Schnauben entrang sich den weitgeöffneten Nüstern, und dann kam der Hengst langsam auf Raigo zu. Schritt für Schritt setzte er die Hufe voreinander, als ginge er im Traum.
Dann stand der Rappe dicht vor Raigo, der sich immer noch nicht gerührt hatte. Das weiche Pferdemaul fuhr liebkosend über Raigos Wange und wanderte in die Halsbeuge, wo die samtigen Lippen zart über Raigos Haut strichen. Da legte Raigo seinen Arm um den Hals des Tieres, und der große Hengst rieb zärtlich seinen Kopf an Raigos Schulter.
„Vater, schau nur!“ sagte Scharin leise. „Es scheint, das Geschenk gibt sich von allein. Wenn er Raigo folgen will, wirst auch du ihn nicht halten können, das weißt du genau!“
„Aber bedenke doch, Scharin, in welche Gefahren er geht!“ antwortete Tamantes genauso leise. „Soll ich das kostbare Tier dem aussetzen?“
„Eben darum!“ meinte Scharin. „Gerade weil er in große Gefahren geht, braucht er das be s te Pferd, das er finden kann. Und bedenke, du warst es, auf dessen Vera n lassung er diese Gefahren auf sich nimmt. Gib ihm den Hengst!“
„Aber Scharin! Das Pferd gehört zu deinem Erbe und ist neben dem Reich das Kos t barste, was einst dir gehören wird. Soll ich meinen Sohn berauben?“ fragte Tama n tes zweifelnd.
„Da du es mir versprochen hast, kann ich nicht schon jetzt darüber verfügen?“ bat Scharin. „Vater, sieh sie dir doch nur an! Der Hengst liebt Raigo, das ist offensich t lich. Gib ihm das Tier!“
„Es sei denn!“ seufzte Tamantes. „Aber es fragt sich, ob Raigo ihn wird reiten kö n nen. Du weißt, sogar dich hat er abgeworfen, obwohl er sich gern von dir liebkosen läßt.“
„Gut, Vater!“ lächelte Scharin erfreut. „Wenn er ihn reiten kann, soll er Raigo geh ö ren. Bist du einve r standen?“
Tamantes nickte. Raigo schien von der Unterhaltung der beiden kein Wort mitb e kommen zu haben. Versunken streichelte er den Hals des Pferdes, das ihn immer wieder liebevoll mit der Nase stupste.
Tamantes legte die Hand auf Raigos Arm, während Scharin zu den Ställen ging, um einen Sattel bri n gen zu lassen.
Wie aus einem Traum erwachend wandte sich Raigo bei Tamantes’ Berührung um. In se i nen Augen stand das gleiche Leuchten, das Tamantes in ihnen gesehen hatte, als Raigo ihm von Phägor, dem Greifen, erzählt hatte.
„Oheim, dieses Pferd ist ein Wunder der Götter!“ Raigo wirkte ergriffen. „Ihr seid ein glückl i cher Mann, daß Ihr es Euer eigen nennen könnt!“
„Dann preise auch du dich glücklich“, antwortete Tamantes, „denn wenn es dich auf seinem Rücken duldet, soll es dir gehören.“
„Mir?“ rief Raigo verblüfft. „Nein, Herr, treibt keinen Scherz mit mir! Ein solches Tier ve r schenkt man nicht.“
„Und doch sollst du es haben“, lächelte Tamantes, „denn wie es aussieht, hat es sich dir selbst zum Geschenk gegeben. Wie könnte ich versuchen, den Willen eines so edlen Tieres brechen zu wollen? Gelänge das, wäre es für alle Zeiten verdorben. Darum hat es bis heute niemand geritten, da es keinen Reiter dulden wollte und ich nicht erlaubte, daß man ihm Gewalt antat. Trägt es dich aus freiem Willen, so soll es dein Eigentum sein. Nimm es als Ausgleich dafür, daß ich dir nicht helfen kann, deine Krone zurückzugewinnen.“
Raigo sank vor Tamantes aufs Knie und küßte seine Hand. „Ich stehe tief in eurer Schuld, Oheim. Ich hoffe, daß ich Euch eines Tages die Wohltaten vergelten kann, die Ihr mir e r weist.“
Unterdessen war Scharin in Begleitung eines Knechtes zurückgekommen, der Zaumzeug und Sattel trug.
„Jetzt wird es sich erweisen“, meinte Scharin, „ob das Geschenk nicht vergebens gewährt wurde.“
Raigo nahm das Sattelzeug auf und betrat die Koppel. Da schoß Argin vom Himmel heru n ter, der in der Zwischenzeit die Gegend erkundet hatte. Als sich der Vogel auf dem Gatter niederließ, scheute der
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