Der goldene Kelch
ihm im Schutz der Hammerschläge etwas zu. Aus Angst, andere könnten das auch bemerken, wandte sich Ranofer schnell ab. Seine Angst war jedoch völlig unbegründet, denn aus lauter Aufregung machte er den Rest des Tages so viele Patzer, dass er die Aufmerksamkeit aller auf sich zog. Kaum kam er am nächsten Morgen ins Goldhaus, warf er auch gleich einen Blick zu den großen Bottichen. Ibni war wie gewohnt da; unbekümmert leerte er einen Sack Feingold ins Wasser. Ranofer traute seinen Augen nicht. Er hatte gedacht, dass Rekh den Babylonier für immer hinauswerfen würde, sobald er Bescheid wüsste. Denn Ibni war doch der Dieb! Vielleicht wusste Rekh ja noch gar nichts; vielleicht hatte ihm Heqet gestern etwas ganz anderes erzählt. Oder Rekh hatte ihm nicht geglaubt. Ein entsetzlicher Gedanke!
Den ganzen Tag ging Ranofer mechanisch seiner Arbeit nach. Er musste sich zwingen, die Vereinbarung einzuhalten und nicht mit Heqet zu sprechen. Am späten Nachmittag hielt er es schließlich nicht mehr aus. Unter dem Vorwand, Heqet beim Anfeuern eines Ofens zu helfen, ging er zu ihm. „Hast du’s ihm gesagt?“
„Ja, gestern.“
„Hab ich mir gedacht. Und warum unternimmt er dann nichts?“
„Keine Ahnung. Vielleicht kann er den Weinschlauch nicht finden.“
„Hat er dir geglaubt?“
„Ich denke schon.“
„Hast du… du hast doch meinen Namen nicht erwähnt?“
„Natürlich nicht!“
Sie konnten nichts tun außer warten. Noch einen Tag, noch zwei, drei…
Schon acht Tage und nichts ist passiert, dachte Ranofer eines Abends auf dem Heimweg, nun müsste doch genügend Gold im Weinschlauch sein. Morgen oder übermorgen wartet Ibni bestimmt mit diesem verfluchten Ding auf mich und der Beweis ist wieder im Eimer.
Dann müssen wir wieder ganz von vorn anfangen und warten und warten und warten! Nein! Lieber laufe ich weg! Ich laufe nachts zum Hafen und verstecke mich auf einem Boot, egal, wohin es fährt. Ja, genau das werde ich tun! Aber… aber was soll ich dann tun? Wovon soll ich leben? Und wenn das Boot nach Süden fährt, geradewegs nach Kusch, wo die Wilden leben und wo sie falsche Götter verehren, wo die Leute nur brabbeln und nicht so vernünftig reden wie die Ägypter – was dann? Ein Zusammenstoß mit einem schnaufenden, fetten Mann brachte Ranofer wieder in die Wirklichkeit zurück. Gleich darauf wurde er von ein paar Burschen umgerannt, sie kamen von hinten angelaufen und wurden ihrerseits wieder von einer Horde Arbeitern zur Seite geschoben, die gerade von der Fähre auf die Straße gestürzt waren. Ranofer sah sich irritiert um. Es musste etwas passiert sein. Die Leute rannten alle rufend und gestikulierend in dieselbe Richtung, nach Süden zum Palast.
Ranofer, der immer noch verwirrt da stand, wurde von allen Seiten angerempelt und schließlich von der Menge mitgerissen. Er versuchte vergeblich über ein Meer aus wippenden Köpfen einen Blick auf die Palastmauern zu werfen. Da ertönten grollende Trommeln und dröhnende Fanfaren. Ranofers Neugier war schließlich stärker als seine Angst. Er zwängte sich an einem störrischen Esel vorbei, als ihn plötzlich jemand am Arm packte. „Nur keine Eile, Junge! Besser, du schaust dir das nicht an.“
„Was anschauen? Was ist denn überhaupt los?“
Die Menge stürmte an Ranofer vorbei; er versuchte ungeduldig, seinen Arm aus dem Griff zu befreien, aber der Mann hielt ihn fest umklammert. Ranofer drehte sich um – es war der Alte vom Fluss. „Eine Hinrichtung, mein Junge. Weißt du, bis du einmal so alt bist wie ich, wirst du noch viele Menschen sterben sehen.“
Ranofer schielte durch den mit Palmen bestandenen Garten einer vornehmen Villa zu den Palastmauern. Die Trommeln wurden lauter, als wollten sie die ohnmächtigen Schreie übertönen, die Ranofer die Haare zu Berge stehen ließen. Ein kleiner Mann wurde an einem Seil, das um seinen Fuß geknotet war, mit dem Kopf nach unten an der Palastmauer hochgezogen; auf halber Höhe ließ man ihn zappeln und zog den nächsten Mann hoch. „Wer ist das, Gevatter?“, fragte Ranofer. „Was haben sie getan?“
„Das sind Grabräuber, mein Junge. Sie sind in das Haus der Ewigkeit eingedrungen, haben die Schätze des verstorbenen Pharaos gestohlen und sie auf dem Markt verkauft. Ha! Sie haben es nicht besser verdient – aber du solltest dir das wirklich nicht ansehen.“
„Grabräuber!“
Schaudernd starrte Ranofer auf die kupferbraunen Leiber, die vor der weißen Mauer baumelten. Wegen dieser
Weitere Kostenlose Bücher