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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Meine Gnade hat Männer in den Wahnsinn getrieben. Ich habe derartig finstere Dinge getan, Monstrositäten gebilligt, die so abstoßend waren, dass meine Grausamkeiten in großen und mächtigen Ländern Angst und Schrecken erzeugten. Selbst in dem Ihrigen.
    Ich habe Männer zu Tausenden ertränkt. Ich habe Arten ausgerottet, Bevölkerungen mittels Krankheiten dezimiert. An jenem Kreuz habe ich das Herz unseres ehrenwerten Bischofs zum Stillstand gebracht. Es hörte auf zu schlagen – was, seit es den Menschen gibt auf dieser Erde, stets das Zeichen des Todes gewesen ist. Und dann habe ich mich herniedergebeugt und ihn zurückgeholt. Ich habe seinem Körper wieder das Leben eingehaucht. Weil ich es wollte. Weil ich göttlich war.
    Und niemals, Commander, niemals erkläre ich mich – nur heute Abend bei Ihnen, damit Sie am Hofe des englischen Königs mein Prophet sein können. Verstehen Sie? Gott ist gleichgültig, und Gott ist schweigsam, und Gott ist fremd. Und all dies werde auch ich sein. Ich werde aufsteigen aus dem Schrecken und der Katastrophe, und dabei werde ich mehr und mehr sein wie Er. Sein Spiegelbild werde ich sein.
    Ich werde sprechen mit dem schweigenden Gott, Commander. Ich als Einziger unter den Menschen werde Gott als meinen Ebenbürtigen kennen. Und dann werden wir sehen.«
    Hinter dem Vorhang bellt der frühere Bischof laut. Shem Shem Tsien runzelt die Stirn und tippt gegen sein Glas. Das Brummen der Lichtspirale verstummt unverzüglich. Es ertönt ein Schlucken und dann Schluchzen, das sehr schnell verklingt.
    Gottverdammt.
    Der Engländer hebt anerkennend sein Glas an die Lippen und fragt sich, was er als Nächstes sagen soll.
    »Wie sieht es aus in London, Commander Banister?«
    Die Frage ertönt unvermittelt und barsch. Sie kommt vom anderen Ende der Tafel, von dem Haufen aus Kissen, auf dem Dotty Catty eine Art Suppe durch einen goldenen Strohhalm saugt. Shem Shem Tsien schließt einen Moment lang die Augen. Diplomatisches Geplänkel mit dem Agenten einer ausländischen Macht ist wie eine Verführung, und eine Verführung wird nicht gerade erleichtert durch die Anwesenheit einer älteren Verwandten, die eine grundsätzliche Abneigung gegen die Unterhaltung anderer hegt.
    »Es herrscht natürlich gerade Krieg«, erwidert James Banister entschuldigend, »daher fürchte ich, dass sich die Stadt, an die Sie sich erinnern, sehr verändert hat, zumindest für den Moment.«
    »Was?« Das Kleiderbündel hält sich eine Hand hinters Ohr. »Was haben Sie gesagt?«
    »Ich sagte, es herrscht Krieg, Madame.«
    »Das glaube ich gern! Zu meiner Zeit herrschte auch der Trieb! Es gab ja so viele Huren. Und junge Kerle, die einem anständigen Mädchen unangemessene Anträge gemacht haben. Eine Schande!« Sie kichert vor sich hin.
    »Die königliche Witwe Khatun hört nicht gut«, murmelt Shem Shem Tsien. Seine Filmstar-Aura bröckelt leicht angesichts dieses mütterlichen Einwurfs.
    »Hier in Addeh Sikkim haben wir Elefanten. Sie sind für ihr ausgeprägtes moralisches Empfinden bekannt«, sagt die alte Frau.
    »Das habe ich gar nicht gewusst«, erwidert Commander Banister vorsichtig.
    »Oh, ja. Moralischer Anstand ist in den Augen des Elefanten zu finden. Sie sollten welche in London halten. Zur Erziehung!« Sie nickt nachdrücklich. »Und nun die Deutschen auch«, fügt Dotty Catty hinzu. »Wenn es in Europa Elefanten gäbe, würde man dort nicht in einem derartigen Schlamassel stecken. Ja, ich werde George schreiben und ihm den Vorschlag machen. Oder sind Sie deshalb hier? Wegen der Elefanten? Häh?«
    »Nein, Ma’am. Mein König wünscht gewisse Staatsaffären zu besprechen.«
    »Affären! Hah! Moralischer Anstand, ich sag’s ja! Noch nie habe ich etwas derartig Blödsinniges und Impertinentes gehört. Obgleich ich mich an einen bestimmten Burschen noch erinnere«, fährt Dotty Catty fort. »Trug immer Blumen im Haar. Können Sie sich das vorstellen? Ein Engländer. Also, was war es noch? Lavendel? Geranien?« Sie stiert ihn durchdringend an. »Hören Sie überhaupt zu, Mann? Ich habe gesagt, Geranien! Was ist damit, hä?«
    James Banister erhebt sich geschmeidig, wirft erst seinem Gastgeber einen Blick zu und marschiert dann stramm zum Ende der Tafel, um sich der Witwe offiziell vorzustellen.
    »Grüße von Seiner Majestät von England«, sagt er.
    »Vom hübschen George? Wie wunderbar. Das ist doch mal ein anständiger Mann, ganz im Gegensatz zu manch anderem.« Wütend gestikuliert sie über den

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