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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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für mich. Gott liegt im Dunkeln. Er ist abwesend.«
    »Ich kenne eine Nonne, die das Gegenteil behauptet.«
    Shem Shem Tsien funkelt ihn an und klatscht noch einmal in die Hände, gestikuliert dann. Die Lichter werden gedimmt, und entlang einer Wand wird ein Vorhang beiseitegezogen, der eine weitere Kammer enthüllt. Sie ist mit medizinischen Paraphernalia gefüllt und weiß gefliest. In der Mitte des Raumes hängt ein Mann – ans Kreuz geschlagen.
    Der Opium-Khan erhebt sich, und James Banister notgedrungen auch. Es sieht so aus, als solle es eine Führung geben.
    »Dieser Körper wird medizinisch versorgt«, sagt der Opium-Khan im Plauderton, während sie sich dem Mann am Kreuz nähern. »Ich werde es nicht zulassen, dass sein Atem aussetzt. Und wie Sie sehen, wird er warm gehalten.« Beflissen zieht er eine leichte Wolldecke beiseite, um den Körper des Opfers zu offenbaren. »Das Einschlagen der Nägel wurde unter Narkose vorgenommen. Von mir persönlich, Commander. Ich benötige keine Gehilfen. Keine Engel.«
    Der Gekreuzigte stöhnt leise. Tatsächlich sind die Nägel an seinen Händen und Füßen sehr sauber angebracht. Außerdem bestehen sie offenbar aus Kupfer. Hinter seinem Schnurrbart erzittert James Banister ein wenig, als ihm etwas auffällt: Es sind Verbrennungsspuren um die Wunden herum sichtbar.
    Shem Shem Tsien tritt hinter das Holzgerüst, an dem der Mann hängt, und entfernt, genussvoll wie ein Taschenspieler, eine letzte Bedeckung. Hinter dem Kreuz taucht eine gewaltige blaue Lichtspirale auf, matt und dunkel. »Gott sollte dies doch eigentlich nicht zulassen. Meine Zitadelle müsste doch vom Sturm seiner Stimme widerhallen. Dieser Mann war einst ein Bischof; seine Kirche schickte ihn hierher als Emissär, und er entschied sich dafür, sich dem Pöbel anzuschließen. Er wiegelte die Menschen zu einem Mob auf und führte sie an meine Tore. Wahrlich, Commander, das war ein bemerkenswerter Tag. Und hier ist er nun.« Shem Shem Tsien schnippt mit einem seiner langen Finger. Die Spirale leuchtet nicht sofort auf. Es ertönt ein Brummen und Summen, während der Mann aufzuwachen scheint oder zurückkehrt von dem Zufluchtsort, den er in seinem Kopf gefunden hat, und ihm klar wird, was nun passieren wird. Er richtet seinen flehenden Blick auf James Banister und öffnet den Mund zum Sprechen. Die Spirale leuchtet auf, und der Mann krümmt sich und schreit. Von seinen Händen und Füßen geht ein Geruch wie von knusprig geröstetem Schweinefleisch aus. James Banister spürt, wie der Würgereiz in seiner Kehle aufsteigt, und konzentriert sich auf die Details. Er hegt den Verdacht, dass er, wenn er sich übergeben muss oder auch nur so aussieht, sofort umgebracht wird.
    Das Opfer ist mittleren Alters und früher ziemlich wohlgenährt gewesen. Nun hängt ihm die Haut wie feuchter grauer Teig von den Knochen. Das Schreien steigert sich zu einem Kreischen und fällt dann ab zu einem schrecklichen, repetitiven Jaulen.
    »Den ersten Monat über hat er gebetet«, sagt Shem Shem Tsien. »Dann hat er geflucht. Jetzt kläfft er. Ich habe ihn auf den Stand eines Tieres reduziert. Ich hege den Verdacht, dass er mich verehrt. Beizeiten werde ich Humus aus ihm machen. Ich werde Rosen in ihm ziehen. Vielleicht werde ich damit warten, bis er tot ist, vielleicht nicht. Und doch bleibt Gott stumm; endlos und ermüdend stumm. Ich finde das frustrierend.«
    Wieder winkt Shem Shem Tsien, und der schreiende Bischof wird verdeckt, wobei die Lichtspirale zischt und spuckt, während die Konvulsionen des Opfers Schweiß darauf vergießen. Der Klang wird abgeschwächt, aber von dem Stoff nicht völlig überdeckt. Der Opium-Khan macht kurz einen besorgten Eindruck, als wäre er bei einem Patzer ertappt worden.
    »Entschuldigen Sie, Commander. Das war unhöflich von mir. Bitte setzen Sie sich. Essen Sie. Ich wollte Ihnen lediglich klarmachen, dass viele Menschen Überzeugungen haben. Niemand aber hat das Wissen. An Ersterem habe ich keinerlei Interesse mehr, nur an einer vollen und unzweifelhaften Erfahrung des Letzteren.«
    »Ich verstehe.«
    »Nein. Aber das werden Sie. Ich versuche, Gott zu erfahren, indem ich mehr wie Er werde. Daher habe ich die zahlreichen Pfade Gottes, so wie sie in der Vielzahl unserer heiligen Schriften aufgezeichnet wurden, nachgestellt. Brudermord? Ja. Ich habe Brudermord praktiziert, auch Vatermord. Ganze Generationen habe ich erschlagen. Ich bin gnädig gewesen – schrecklich gnädig. Aus reiner Laune.

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