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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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vollständig in ihrem Thron, nachdem sie sich auf die Kissen hat fallen lassen.
    »Die Feindseligkeit meiner Mutter rührt von dem Phänomen her, das die Psychiater als Aggressionsübertragung bezeichnen«, sagt Shem Shem Tsien, während er wieder seinen Platz einnimmt. »Sie ist der Ansicht, ich hätte in meiner Pflicht versagt, für einen Erben zu sorgen, und überträgt diese Unzufriedenheit auf eine fälschliche Erinnerung an die Vergangenheit, womit sie ihre eigenen Schuldgefühle darüber kompensiert, noch immer am Leben zu sein. Der menschliche Geist ist so umtriebig.«
    »Halte ich persönlich gar nichts von«, erwidert James Banister. »Freud und das ganze Zeug. Nicht sehr britisch, würde ich sagen.«
    Shem Shem Tsien schnauft. »In der Tat.«
    Die Witwe beruhigt sich ein wenig und fordert einen ihrer Träger dazu auf, die Tischdekoration zu verschieben, sodass sie durch einen Blumenschmuck fast komplett vor ihrem Sohn verborgen wird. Der Opium-Khan fährt fort.
    »Erben legen den Gedanken an einen Nachfolger nahe. An einen Austausch. Verstehen Sie? Man muss für diese Dinge den angemessenen Zeitpunkt wählen.«
    »Damit warten Sie, bis Sie älter sind, was?«
    Der Opium-Khan lächelt.
    »Sie meinen, bis die Volljährigkeit meines Kindes mit meiner eigenen Geschäftsunfähigkeit zusammenfällt?«
    »So was in der Art. Na, ist es nicht so?«
    »In Wahrheit meinte ich, dass die Bevölkerung erst wieder wachsen muss. Es müssen wieder genügend Untertanen vorhanden sein, die ich massakrieren kann, um zu zeigen, was denen blüht, die mich ersetzen wollen, wenn der Gedanke einer möglichen Nachfolge erst einmal um sich gegriffen hat.«
    James Banister starrt ihn an. »Ganz schön harter Tobak«, murmelt er nach einem Moment.
    »Ich kann Ihnen da nicht zustimmen«, erwidert Shem Shem Tsien. »Ich gestehe ein, dass es hart ist. Und doch göttlich, oder gottgleich, meinen Sie nicht?«
    »Wenn das göttlich ist, dann aber auf ziemlich heidnische Weise, Khan.«
    »Ich weiß nicht. Tatsächlich habe ich darüber nachgedacht, seit ich ein Junge war. Die Bibel sagt, dass wir wie Gott sind, da wir das Wissen über Gut und Böse besitzen. Das ist Teil unserer Erbsünde. Aber es scheint mir doch, dass Gottes herausstechendes Merkmal, der am häufigsten erfahrene Aspekt seiner Existenz, sein Schweigen ist. Seine große, göttliche Gleichgültigkeit unseren Handlungen und Geschäften gegenüber. Die Christen werden Ihnen sagen, dass Gott uns den freien Willen geschenkt habe, Commander Banister, und im gleichen Atemzug werden sie hinzufügen, dass er existiert, weil er unentwegt in ihren Herzen zu ihnen spricht und ihnen Zeichen gibt.
    Nun, mir genügen Zeichen nicht, und ein Herz ist ausschließlich dafür geeignet, Flüssigkeit durch einen Körper zu pumpen, zu nichts anderem. An dem Tag, an dem jemand in meinem Herzen spricht , werde ich an Blutverlust gestorben sein. Also habe ich ein großes Projekt begonnen, Commander Banister. Ich plane, es herauszufinden. Ich versuche, Gott nahe zu sein.«
    »Das ist ein edles Ansinnen.«
    »Es ist einzigartig. Ich bin der Einzige auf der Welt, der sich bemüht, Gott nahe zu sein, indem er versucht, ihm ähnlicher zu werden. Es gibt Tausende fromme Bücher und Zehntausende fromme Männer und Hohepriesterinnen und Propheten, die jedes einzelne Wort in ihnen deuten. Doch nichts finden sie heraus, das sicher wäre. Sophistereien und Zirkelschlüsse, wohin man sieht. Verlogenheit ist allgegenwärtig. Heuchelei grassiert. Ich habe diese Heuchelei aus vielen, die mir begegnet sind … herausgeschnitten. Ich habe sie zu ehrlichen Menschen gemacht – am Ende. Aber das Einzige, was ich entdeckt habe während all der Zeit, ist, dass wir über Gott nichts wissen.«
    »Wie sollen wir überhaupt wissen, dass es einen gibt?«
    »In der Tat. Und doch glaube ich es. Mein einziger Glaubensgrundsatz.« Shem Shem Tsien lächelt ein selbstironisches Lächeln, ein sarkastisches Kräuseln der Lippen. »Das, was ich vom Universum wahrnehme, wie es interagiert, die Zufälle und Unfälle, die besondere Sorgfalt der Evolution, überzeugen mich davon. Ich betrachte eine Uhr und schließe daraus, dass sie funktioniert, auf die Kenntnisse und Einsichten des Uhrmachers. Es überzeugt einige Wissenschaftler, einige Philosophen, einige Theologen. Andere überzeugt es nicht. Mich belastet das nicht. Mir genügt, dass ich glaube. Wie auch immer … das Wesen dieses Gottes, Commander Banister, bleibt undurchsichtig

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