Der goldene Schwarm - Roman
verschwunden und von einer entsetzlich fokussierten Wut ersetzt worden. Sein Kopf kam ihr entgegen wie ein zustoßender Reiher, fauchend und zuschnappend. Er bäumte sich auf, und weitere Gelenke seines Arms rasteten aus. Sie lockerte ihren Griff. Er war nutzlos bei einem Mann, den es offenkundig nicht kümmerte, welche Schmerzen er sich zufügte.
Edie kroch zurück. Sie wollte ihre Waffe nicht benutzen, da sie keine Ahnung hatte, wie die anderen Menschen hier – es gab noch weitere, da war sie sich sicher – auf den plötzlichen Krach reagieren würden. Vielleicht würden sie ihn ignorieren. Oder sie würden zusammengelaufen kommen und sie anstarren. Vielleicht würden sie plötzlich versuchen, sie in Stücke zu reißen.
Der Mann rappelte sich auf, stürzte ihr entgegen, und sie wich ihm aus. Wieder bäumte er sich auf, diesmal aber griff sie ein und schleuderte ihn über ihren Rücken, wobei sie eines seiner Beine ergriff und es kraftvoll verdrehte, als er zu Boden ging. Das Knie wurde ausgekugelt. Es würde sich anschließend nicht mehr richtig beugen lassen. Er würde vielleicht humpeln müssen. Aber sie hatte nicht auf ihn geschossen, und das war schon etwas wert, auch wenn sie erhebliche Zweifel hegte, dass er je wieder anders sein würde als jetzt – ein Mann, der auf die Bewusstseinsebene eines Hais reduziert war.
Sie beobachtete, wie er versuchte aufzustehen, es nicht schaffte und dann jegliches Interesse an ihr verlor. Einen Augenblick später hörte sie ein eigenartiges reißendes Geräusch, drehte sich um und sah, wie er die Finger seines eigenen, nutzlosen Armes verschlang.
Edie würgte, fing sich wieder, verlor dann aber erneut die Kontrolle über ihren Magen und entleerte ihn in einen Papierkorb in einer Ecke. Dann wischte sie sich den Mund an einem handgewebten Vorhang ab und zog weiter.
Im Verbindungsteil zwischen zwei Waggons befand sich ein Alkoven mit einer aufziehbaren Lampe. Die würde für Licht sorgen. Und Edie zur Zielscheibe machen. Sie dachte darüber nach, holte die Lampe dann herunter und drehte an der Kurbel. Besser, zu sehen, was vor sich ging, als einem Überraschungsangriff zum Opfer zu fallen.
Sie öffnete die Tür und leuchtete mit der Lampe in das nächste Abteil. Es war ein Schlafraum mit versetzt an den gegenüberliegenden Seiten des Waggons angebrachten Betten, um eine gewisse Privatsphäre zu ermöglichen und vor flächendeckendem Geschützfeuer zu schützen. Sie lauschte und wusste, dass er belegt war.
Edie bog um die erste Ecke und stieß auf einen Ruskiniten und zwei Soldaten, die alle leer und bewegungslos vor sich hinstarrten. Sie hielt ihre Lampe direkt vor das Gesicht des Nächstbesten und sah, wie sich seine Pupillen zusammenzogen. Er zeigte kein anderes Zeichen dafür, sie bemerkt zu haben, stand nur schlaff da. Sie ging an ihm vorbei und schaute ihm direkt ins Gesicht, als er anfing zu sprechen.
»Ich denke, Sie werden …« Er schien noch mehr zu sagen zu haben, aber er tat es nicht. Er hörte einfach auf.
»Ich denke, Sie werden …«
Sie trat zurück.
»Ich denke, Sie werden …«
Dieselbe Aussage, wieder und wieder. Eine Aufnahme. Oder vielmehr alles, was von diesem Mann übrig geblieben war. Eine Spur von ihm, der Rest ausradiert. Sie hörte ein Seufzen und fuhr scharf herum, die Waffe auf den nächsten Mann gerichtet. Aber es war gar keine Gefühlsäußerung gewesen, sondern bloß das Geräusch der Luft, die von seinen Lungen ausgestoßen worden war, als er sich bewegt hatte.
Edie betrachtete sie alle und wurde von ihnen beobachtet. Sie waren nicht neugierig, aber trotzdem beobachteten sie ohne Unterlass. Es gab ein afrikanisches Wort, das sie von Songbird gelernt hatte: Zumbi . Eine Leiche, die nicht den Anstand hat liegen zu bleiben. Man muss ihr den Kiefer zubinden, damit sie aufhört zu sprechen.
»Hallo?«
Wieder wirbelte Edie herum und hob ihre Waffe. Der Mann zuckte zusammen. Er war jung, in den Dreißigern, und korpulent. Ein hamsterartiger Typ in einem Gewand. Ein Ruskinit. Sie war so froh, ihn zu sehen, lebendig, hier drinnen, dass sie ihn beinahe umarmt hätte. Stattdessen fauchte sie: »Wer sind Sie?«
Ihre Waffe hatte sie noch immer auf seinen Kopf gerichtet.
»Sholt«, sagte er. »Nennen Sie mich Ted. Ich bin heute Morgen angekommen.«
Er hielt ein Glas in der Hand. Nach einem Augenblick wurde ihr klar, dass es Milch enthielt, und dass seine Brust mit Spritzern bedeckt war, bei denen es sich um milchiges Erbrochenes handeln
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