Der goldene Schwarm - Roman
bekreuzigte sich. Edie hatte ihn das noch nie zuvor tun sehen. Bei S2:A beteten nur wenige, sie hatten zu viele dumme Zufälle erlebt, im Guten wie im Schlechten. Selbst in Edies Fingern kribbelte es, und in ihr machte sich das Gefühl breit, dass dies zu groß war, um ihr Problem zu sein, zu abwegig und verzweifelt. Es muss jemanden über mir geben, der sich darum zu kümmern hat . Aber das war auch etwas, woran man sich bei S2:A gewöhnte – derjenige, der vorbeikam und übernahm, wenn die Dinge eine schlimme Wendung nahmen, war man selbst.
»Funkkontakt?«, fragte sie.
Songbirds Funker, Jasper, schüttelte den Kopf. »Mehr Geknacke als beim Spanferkelbraten.«
Abel Jasmine hatte Edie in London gesagt, dass Frankie vielleicht noch im Zug sein könnte. War sie dann tot? Oder saß sie mit weit aufgerissenen Augen an ihrem Schreibtisch, wie die Farmer und Fischer, die Edie gesehen hatte?
Edie gab Songbird und den anderen ein Zeichen: Wartet. Songbird runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. Wir gehen mit Ihnen da rein, Gräfin , sagte sein Gesicht. Alle für einen, aye?
»Gebt mir fünf Minuten«, sagte Edie. »Dann kommt hinterher, aber mit Bedacht, verstanden? Das sind nämlich unsere Leute, ganz gleich, was mit ihnen passiert ist.«
Songbird sah störrisch aus. Edie seufzte.
»Bitte«, sagte sie. »Wenn Frankie da drinnen tot liegt, dann möchte ich diejenige sein, die sie findet.« Auch wenn sie sich diesen Gedanken bis jetzt nicht gestattet hatte.
Songbird verzog das Gesicht, gab aber nach. Edie wandte sich um und ging auf den Zug zu.
Sie stieg über den hintersten Waggon ein. Der Lovelace hatte sich seit ihrer Zeit verändert – neue Waggons waren hinzugefügt worden, andere verschwunden –, aber im Grunde war es immer noch derselbe Zug: verschwenderisch verziert und mit den eingeprägten Signaturen der Ruskiniten-Handwerker im Eisen. Nachdem sie eingetreten war, fing sie die Tür sanft mit dem Rücken ab, damit sie lautlos zufiel. Der feste Druck gab ihr ein beruhigendes Gefühl, aber schon einen Augenblick später empfand sie eine wilde Klaustrophobie, ein tief sitzendes Bedürfnis, keinen Schritt weiterzugehen.
Dafür ist jetzt keine Zeit.
Der Wagen war im Inneren nur teilweise beleuchtet, die Gardinen waren vorgezogen, sodass das Licht von den großen Belagerungsscheinwerfern nicht hereindrang. Nur in Streifen fiel es in einen der Aufenthaltsräume des Lovelace , einen Rauchsalon. Edie wollte schon weitergehen, als sie von einem schwachen Atmen aufgehalten wurde, einem winzigen Ausstoß sich bewegender Luft. Es roch nach Wäsche. Sie ging tief in die Hocke, glitt geschmeidig zur Seite und in eine dunkle Ecke. Sie blickte sich um, aber ihre Augen mussten sich noch immer an die Dunkelheit gewöhnen. Es lief ihr eiskalt den Rücken herunter. Ich bin in einem Raum mit einem lebenden Toten.
Unfairer Gedanke. Irrational. Wenn jemand hier war, dann war es kein Monster, sondern ein Opfer. Es sei denn, er hat gerade gegessen, als es passierte. Dann ist er vielleicht beides. Sie war sich sicher, dass es ein Mann war, ohne zu wissen, warum.
Es gab ein Spiel, das sie immer mit den Sekunis gespielt hatte, ein Trainingsspiel im Dunkeln. Ertaste dir deinen Weg. Erkenne deinen Körper, erkenne den Raum. Im Dunkeln würde sie in Verteidigungsstellung gehen, und im Dunkeln würde sie angegriffen werden. Das Entscheidende war, nichts zu erwarten und nach nichts Ausschau zu halten. Man bewegte sich, man wartete, man handelte nur, wenn es so weit war.
Sie legte sich auf den Bauch, entspannte ihren Körper und wartete.
Er tauchte vor ihr auf, als trete er hinter einem Vorhang hervor. Er musste sich auf einem der Sitzplätze zusammengekrümmt haben. Eine Hand griff nach ihr, um sie zu umarmen, an ihr zu reißen oder um ihr die Waffe aus dem Holster zu ziehen. Sie wusste es nicht. Sie wich der Hand aus und legte ihren Arm um seine Brust, wobei sie ihre eigene Mitte herumdrehte und sein Bein vom Boden fegte. O soto gari : kraftvoll, aber nicht tödlich. Sie folgte ihm auf den Boden und hielt ihn mit dem Arm fest, während er versuchte, seine Bewegung fortzusetzen.
Schüttelte er eine Hand? Öffnete er eine Tür?
Ganz plötzlich bockte er, und sie hörte, wie seine Schulter knackte, spürte, wie sich der Knochen unter der Haut verschob. Er drückte so lange, bis sein Gelenk aus der Pfanne brach, und als sie sein Gesicht sah, war sie so erschrocken, dass sie ihn beinahe losließ. Der leere Blick war
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