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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Geste der Begrüßung, und selbst aus dieser Entfernung kann Joshua Joseph sehen, dass sie geweint hat. An ihrem Zittern erkennt er, dass sie noch immer weint. Er fragt sich vage, um wen sie trauert, ob sie jeden Tag hierherkommt oder jede Woche oder ob auf diese Beerdigung gleich die nächste folgt. Was ihm nur langsam dämmert, findet eine Stimme in dem, was sein Großvater erschüttert und verzweifelt ausruft. Der alte Mann stürzt vor, die eine Hand ausgestreckt, als greife er aus eisiger See ein allerletztes Mal nach der Strickleiter des Rettungsbootes.
    »Frankie!«, schreit er. »Frankie, Frankie, bitte!«, während er, ungeachtet seiner lahmen Knie und seiner dürren Knöchel, auf das Osttor zustürmt. »Frankie! Meine Frankie!«
    Und sie reagiert. Tatsächlich. Ihr Gesicht hellt sich auf angesichts der unerwarteten, unvorstellbaren Gnade, dass seine Liebe, selbst in diesem grausamsten Moment, hält. Die winkende Hand scheint ihm entgegenzufliegen, wie von einem Windstoß angetrieben. Und dann, plötzlich, wird ihm die Tür wieder vor der Nase zugeschlagen. Sie ist noch nicht so weit. Sie ist nicht bereit. Sie zieht ihre Hand zurück und wendet sich ab, und dann schiebt sich der zweite Bus zwischen sie. Daniel kämpft mit dem Riegel des Tors, den Enkelsohn immer im Schlepptau, der – beinahe – ebenso verzweifelt ist wie der alte Mann selbst. Das Tor schwingt auf, aber als der Bus wieder abfährt, weiß Joshua Joseph bereits, was er sehen wird. Die Haltestelle ist leer.
    Daniel starrt verständnislos vor sich hin und wirbelt dann herum, um seinen Blick dem davonfahrenden Doppeldecker folgen zu lassen, und sieht – sie beide sehen es – die schmale Gestalt, die sich im hintern Teil des Busses eng an die silberne Stange klammert. Ihr Gesicht ist von ihnen abgewandt, auch wenn ihr Körper und ihr Herz sich weigern, dasselbe zu tun. Und so bleibt sie auf dem Trittbrett stehen wie angewurzelt, als wolle sie sie beide noch umarmen, auch als der Bus sie davonträgt, um eine Ecke biegt und sie verschwunden ist.
    Sie finden Joes Widerstand – seinen rückhaltlosen Widerstand – eigentümlich und frustrierend. Sie sperren ihn in einen kleinen weißen Raum, und einen Augenblick später scheint sich das Zimmer vom Rest des Gebäudes abzulösen und ihn herumzudrehen, hoch, runter, um seine eigene Achse. Während er festgeschnallt in der Luft hängt und dabei zusieht, wie die eine Wand des Zimmers sich vor ihm zurückzieht, wobei ihm klar ist, dass die Wand hinter ihm immer näher kommen muss, rechnet er sich aus, dass er, wenn er sich selbst mit fünfzehn Meilen pro Stunde bewegt – was nicht unwahrscheinlich ist – und das Zimmer ebenso schnell in die andere Richtung, mit einer Kraft von dreißig Meilen pro Stunde aufprallen und sehr wahrscheinlich dabei umkommen wird.
    Er breitet die Arme aus und versucht, die Beschleunigung abzubremsen. Er stirbt nicht, erleidet nicht einmal schwerere Verletzungen – auch wenn er das Gefühl hat, sich einen Zeh ausgerenkt und einige Rippen gebrochen zu haben, und sich darüber wundert, dass ihm dies, angesichts der derzeitigen Umstände, wie eine Kleinigkeit vorkommt –, und als sie fertig sind, binden sie ihn los. Er schwankt und torkelt und entleert seinen Magen auf den weißen Fußboden. Sie halten ihn fest, und er bedankt sich.
    Mr Ordinary lächelt.
    Statt ihn zurück in sein Zimmer zu bringen (er kämpft dagegen an, es innerlich als sein Zuhause zu bezeichnen), stecken sie ihn in einen anderen Raum direkt nebenan. Im Inneren befindet sich ein Mann, der nach Gummistiefeln, Schlamm und Algen riecht und dessen Körper ein Schlachtfeld aus Verbrennungen und Schorf ist.
    »Wir stecken tief im Efeu«, sagt Ted Sholt.
    Joe schaut auf den silbrigen Kopf hinunter und auf den Mann, von dem er glaubt, dass er im Sterben liegt, und fühlt eine starke Verbundenheit.
    Sie haben mit Ted Sholt etwas Merkwürdiges angestellt, etwas Raffiniertes und sehr Schreckliches. Er zittert, aber nicht wie jemand, der friert oder müde ist oder Angst hat. Er zittert, als würden sich seine Muskeln von den Knochen lösen. Auch seine Haut sieht auf eigenartige Weise lang gezogen aus, als würde sich sein Körperfett an Stellen sammeln, wo es nichts zu suchen hat.
    »Efeu im Innern«, sagt Sholt heiser. Seine Augen irren suchend hin und her, finden aber nichts, und Joe wird klar, dass er nichts sehen kann. »Efeu im Blut. Ted ist ein Narr, Teds Kopf ist nicht klar, Gott ist ein Traum, die Teufel im

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