Der goldene Schwarm - Roman
sein muss. Brüll ihnen die Antwort entgegen, und lass sie es herausfinden. Sag die Wahrheit, aber halte sie fern von ihnen. Du musst, Joe! Du musst!« Er keucht und schließt fest die Augen. »Es steckt dort alles drin. Tu irgendwas. Aber halte ihn auf.«
Ted schnappt nach Luft und krümmt sich, und wieder knackt es knorpelig in seinem Körper. Joe fragt sich, ob er, wenn er gegen die Tür hämmern und anbieten würde zu sprechen, einen Arzt für Ted bekommen könnte.
Wahrscheinlich nicht.
Also lügt er stattdessen gnädig und sagt: »Das werde ich, Ted, das werde ich.«
Später, als sie das Wasser zur Anwendung bringen, stirbt Joe für zwei Minuten und achtzehn Sekunden.
Das Wasser fühlt sich kalt und frisch an in seinem Gesicht, schmeckt aber nach Salz und Chemikalien. Es ist eine besondere Mischung, wie Mr Ordinary erklärt, um das Fatalitätsrisiko zu senken. Während das Wasser seine Lungen ausfüllt, hat Joe nicht das Gefühl, dass diese Vorsichtsmaßnahme besonders gut funktioniert.
Er beginnt zu ertrinken. Einer der Ruskiniten steht neben ihm, sehr dicht, und überwacht die Geräusche seines Erstickens. Dann wendet der Ruskinit den Kopf und lauscht auf den Klang des Wassers in Joes Lunge. Er hat Erfahrung. Er ist ein Fachmann. Er kann an den Geräuschen, die Joes Körper macht, erkennen, wann es an der Zeit ist abzubrechen.
Joe fragt sich, wann er aufgehört hat, die Ruskiniten für menschliche Wesen zu halten. Er fragt sich, ob sie ihn jemals für ein solches gehalten haben.
Ein Teil seines Bewusstseins kommt nicht umhin zu bemerken, dass sie ihm in letzter Zeit gar keine Fragen mehr gestellt haben. Vielleicht haben sie das auch nicht mehr vor. Vielleicht werden sie ihn einfach nur umbringen.
Die Vorstellung ist grauenhaft, und er beginnt, sich zu wehren. Er kämpft, bis er nicht mehr kann, und atmet ziemlich viel Wasser ein, woraufhin der Lauscher schließlich seine Hand hebt. Ein Notfallwagen wird hereingerollt, Pfleger und Ärzte brüllen.
Sie müssen ihn wiederbeleben, was sie mit einer Maschine erledigen, denn als einer von ihnen eine Mund-zu-Mund-Beatmung durchführen will, warnt Mr Ordinary, dass Joe gefährlich sei und ihm womöglich in die Lippe beißen könnte und sie auch nicht wüssten, ob er an irgendwelchen ansteckenden Krankheiten leide.
Joe fragt sich, warum zur Hölle sie das nicht vorher geklärt haben. Es scheint so offensichtlich. Während sie darum kämpfen, ihn nicht sterben zu lassen, überlegt er sich, ob er kooperieren soll. Er nimmt an, er könnte einfach aufbrechen und verschwinden. Aber der Tod scheint auch keine besonders gute Lösung zu sein, denn er hat noch Dinge zu erledigen. Andere Menschen hängen von ihm ab.
Er hat es stets vermieden, zu viel über den Tod nachzudenken. Die ganze Vorstellung stößt ihn ab, und das war auch immer schon so. Die verdammte Todesuhr von Daniel, die er ihm zur besonderen Pflege ans Herz gelegt hat. Er fragt sich, warum ihm das hier und jetzt so wichtig vorkommt: ein scheußlich deprimierendes Stück viktorianischen Plunders. Und warum hat Daniel überhaupt so viel Wert darauf gelegt, wo er doch das Leben so geliebt hat?
Er beschließt, sich im Zweifel für Daniel zu entscheiden. Er wird noch nicht sterben.
Als sein Herz wieder schlägt, erklärt Mr Ordinary, es sei an der Zeit, ihm eine Pause zu gönnen.
Er trägt ein blassgelbes Krankenhemd, und noch immer ist seine Kehle wund von den Schläuchen und dem Würgen, während er in einem Zimmer mit Blumenkästen vor dem Fenster sitzt und sich tausend Meilen weit fort wünscht, sich wünscht, jemand anders zu sein, sich wünscht, niemals Billy Friend getroffen zu haben und niemals seinem Großvater in die sterbende Welt der Uhrmacherei gefolgt zu sein. Und er wünscht sich, sein Vater hätte ihn dazu gezwungen, Anwalt zu werden, was zu einem gewissen Zeitpunkt Mathews feste Absicht gewesen war, bis Harriets Tränen ihn schließlich davon abgebracht hatten.
Nun spielt er also das Leiternspiel mit einer anderen Insassin und behält die Uhr im Auge. In zwanzig Minuten wird es elf Uhr vormittags sein. Er fragt sich, ob sie ihn dann holen werden, weil elf eine Schnapszahl ist.
Nicht alle Mitarbeiter hier sind Ruskiniten. Bei vielen von ihnen handelt es sich, soweit er es beurteilen kann, um ganz normales medizinisches Personal. Er befindet sich in einem Ruskiniten-Hospital für psychisch Kranke. Eine der Schwestern – eine hübsche, rundliche Frau namens Gemma – hat ihm in
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