Der goldene Schwarm - Roman
berührt ihn weniger und weniger.
Er lässt sich für eine Weile davontreiben.
»Diese Aufgabe. Diese Worte. Sind gegen die Natur. Sie verstoßen gegen alles. Väter sollten nicht ihre Söhne begraben.« Daniel Spork, aufrecht wie ein Pendel, schnürt es die Kehle zu, als wäre er eine Standuhr, in die Sand geraten ist.
»Nicht im Krieg, nicht im Frieden. Ich habe beides kennengelernt.« Er hält inne, bewegt seine rechte Schulter, seinen Hals. In seinem Inneren lodert ein Schmerz, der alles in ihm versengt. »Mein Sohn war kein guter Mensch. Nach den Maßstäben des Gesetzes unseres Landes. Er hat gegen das Gesetz verstoßen. Man konnte ihm das nicht klarmachen. Ich habe es versucht, aber ich war allein, und ich kann nicht. Ich bin nicht. Gut mit Worten. Nicht einmal mit Menschen. Ich verstehe Maschinen. Also. Er war ein schlechter Mensch. Er hat gestohlen. Er hat geraubt. Er hat zerstört und Waffen abgefeuert, und andere hat er dazu ermuntert, dasselbe zu tun. Er hat versucht, Drogen zu verkaufen. Er saß im Gefängnis. Mein Sohn war schlecht. Ich betrauere meinen schlechten Sohn.« Trotz flackert in ihm auf.
»Aber das stimmt nicht. Er war nicht schlecht. Er war es nicht. Er hat geliebt. Er hat seinen Sohn geliebt. Er hat seine Frau geliebt. Vor allem wollte er seine Mutter lieben. Meine Frankie. Seine Frankie, die er kaum gekannt hat. Ich glaube, er hat sogar mich geliebt. Auch wenn ich ihn enttäuscht habe. Jeden Tag habe ich ihn enttäuscht. Es tut mir so leid, dass ich nicht. Ich konnte nicht.« Wieder hält Daniel inne. Was genau er nicht konnte, wird Joshua Joseph niemals erfahren, da sein Großvater sich zusammenreißen und diesen Punkt aussparen muss, weil er sich sonst nicht mehr in den Griff bekommen, bei dieser letzten Gelegenheit noch einmal versagen, noch einmal enttäuschen wird, und das wird Daniel Spork nicht zulassen. Die Sprungfeder muss sich vollständig ausrollen.
»Er war nicht schlecht. Er war es nicht. Er konnte sich nicht beherrschen. War wütend. Gesetzlos. Nicht unehrlich. Auch wenn die Wahrheit – wie so viele von uns – es nicht mit ihm aufnehmen konnte.
Und genau darin offenbart er sich. Da er wusste, dass er … Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Dass er. Starb. Er kam aus dem Gefängnis. Um seinen Sohn zu sehen und Lebewohl zu sagen. Er sagte mir nicht, dass er kommen würde. Dafür könnte ich ihn umbringen.«
Unglaublicherweise bringt dies alle zum Lachen, nicht verbittert, sondern aus vollem Herzen. Ja. Auch wenn er zu Grabe getragen wird, macht einen Mathew Spork so fuchsteufelswild wie eh und je und ist dabei auf ebenso dumme, sture Weise heldenhaft.
»Also trauert. Bitte. Lasst es heute heraus. Für mich. Schreit. Weint. Trinkt zu viel und seid unvernünftig. Seid wie er. Lasst euch gehen. Denn ich kann es nicht. Ich weiß nicht, wie.
Väter sollten nicht ihre Söhne begraben.«
Draußen lassen sie den Sarg in die Erde. Aus irgendeinem Grund ist das Loch mit Kunstrasen geschmückt. Joshua Joseph hatte sich vorgestellt, die Erde würde lehmig und weich sein, und dass er in der Lage sein würde, sie auszustreuen, aber London ist auf Ton errichtet. Und so lässt er bloß einen großen senfgelben Brocken in die Grube fallen, der dumpf unten aufschlägt. Er sorgt sich, ob er den Lack beschädigt haben könnte, und kommt sich dann dumm vor, da es ja niemals jemand bemerken wird, oder, wenn doch, ihm keinen Vorwurf machen würde.
Das Begräbnis nimmt und nimmt kein Ende.
Bis Joshua Joseph, beinahe eine Stunde später, als der Sarg wohlbehalten unter der Erde liegt, mit seinem Großvater über eine kleine Straße schaut. Seit fünf Minuten stehen sie nun schon so, der alte Mann, der über all den Selbstvorwürfen brütet, die er nicht ausgesprochen hat, und der Junge, der instinktiv die eine Person sucht, die ebenso verantwortlich ist für Mathew Spork, im Leben wie im Tod. Gemeinsam beobachten sie – ohne bewusst hinzusehen – einen roten Doppeldeckerbus, den ersten von zweien, der auf der anderen Straßenseite die Haltestelle ansteuert. Nach einem Augenblick fährt er weiter und offenbart eine einzelne Gestalt in Trauer, die sich hager und aufrecht vor dem Zeitschriftenladen abzeichnet.
Joshua Joseph erhascht einen Blick auf graues Haar in einem strengen Bobschnitt, einen dürren Hals wie eine Weißbirke, und zwei knotige, arthritische Hände, die eng an einer strengen schwarzen Hose liegen. Ganz langsam und sehr bewusst hebt sie die linke Hand in einer
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