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Der goldene Schwarm - Roman

Der goldene Schwarm - Roman

Titel: Der goldene Schwarm - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Knaus Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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Opium-Khan gestikuliert, und die Ruskiniten verteilen sich, um die kleine Gruppe zu umringen. Als sie an der Leiche von Edie Banister vorbeikommen, scheinen sie ins Stocken zu kommen, sich sogar zu verbeugen.
    »Es war einmal«, beginnt Shem Shem Tsien. Er umkreist sie beinahe lässig – wie ein wählerischer Kannibale, der sich überlegt, wen er als Nächstes verspeisen soll. »Es war einmal, vor gar nicht langer Zeit, da wurde im Lande Addeh Sikkim, im königlichen Palast, ein Junge geboren, der sich nichts mehr wünschte, als sein Volk in eine neue Welt des Wohlstandes und der Hoffnung zu führen. Er eignete sich wohl für diese Aufgabe: Klug war er und geschickt und sehr beliebt.« Der Opium-Khan setzt einen nostalgischen Blick auf.
    »Ich habe ihn in eine Stahlkammer gesperrt und bei lebendigem Leibe verbrannt. Die Asche habe ich dazu benutzt, meine Trauerkleidung zu färben, und sein Königreich übernahm ich als mein eigenes. Ich brauchte es, wissen Sie, um die Göttlichkeit zu verstehen.«
    Joe Spork macht einen Schritt zur Seite, sodass er Shem Shem Tsien weiterhin vor sich hat. Der Opium-Khan nickt anerkennend und schreitet weiter. Hinter ihm nicken die Ruskiniten im Gleichklang mit den Schritten ihres Herrn.
    »Ich habe Gott ganz wissenschaftlich auf die Probe gestellt. Es war schließlich der Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters. Ich nahm seine Rolle ein in jeder erdenklichen Hinsicht. Ich missbrauchte seine Diener – jeden Glaubens. Ich folterte seine Anhänger. Ich heilte die Kranken und erweckte die Toten zum Leben. Ich schaute mich um und fand eine Magierin, eine Ausländerin, die mir das Universum so zeigen konnte, wie Gott es erblickt. Und als in der Fülle meines eigenen Lebens meine Kräfte zu schwinden begannen, wurde mir klar, dass ich mich der letzten Prüfung der Gottheit unterziehen musste. Ich musste selbst von den Toten zurückkehren. Nur dann würde ich in der Lage sein, Gott als ein Ebenbürtiger entgegenzutreten. Nur dann konnte ich zu Ihm werden.«
    Bastion knurrt in seiner Tasche. Polly Cradle beobachtet Shem Shem Tsien, als er an ihr vorbeikommt, Pistole und Degen entspannt in den Händen.
    »Sie hatte recht«, fährt er fort und deutet auf Edies Leichnam. »Sie sind ihr tatsächlich sehr ähnlich. Nicht äußerlich. Aber Sie haben dieselbe ärgerliche und ausgesprochen unverdiente Überzeugung, es mit mir aufnehmen zu können.« Er geht weiter und kommt auf seine Geschichte zurück.
    »Ich habe mich aufzeichnen lassen. Niederschreiben. Transkribieren. Ich wurde, wie man heutzutage so gern sagt, Information. Verstehen Sie? Ich habe das Muster meines Lebens in die Welt geschnitzt, in Wort und Bild. Ich habe die Aktivität meiner Hirnströme gemessen. Und ich habe sie gespeichert. Mit den Waisen des Whistithiel-Experiments stand mir ein umfangreicher Vorrat an Probanden zur Verfügung. Während ich noch am Leben war, habe ich meine Apparaturen optimiert, indem ich sie an ihnen ausprobiert habe. Ich habe ihnen Fragmente meines Lebens vorgespielt und sie gelehrt – mittels Elektroschocks zum Beispiel –, mich perfekt nachzuahmen. Jeder meiner Ruskiniten repräsentiert einen Aspekt meines Ichs.« Er macht eine Geste, und die Ruskiniten um ihn herum übernehmen sie und deuten mit flüssigen Bewegungen aufeinander.
    »Natürlich habe ich es niemals gestattet, dass das Ganze jemandem unter die Augen kommt. Und um ehrlich mit Ihnen zu sein, die Ruskiniten sind nicht perfekt. Weder wurden sie vollkommen ausgelöscht, noch waren sie bereit zu lernen. Man musste primitive Pawlow’sche Methoden anwenden. Freude und Schmerz.
    Vaughn Parry war anders.«
    Er wendet sich jetzt an Cecily und Bob Foalbury und streckt ihnen die Spitze seines Degens entgegen.
    »Vaughn war eine lebende Leiche. Er hatte nicht das Geringste in sich. Er war ein Wunder der Natur: ein toter Körper, der vorgab, ein lebendiger Mann zu sein. Und in diesem Leichnam steckte der verzweifelte Wunsch, ein echter Junge zu werden … er bemühte sich so angestrengt. Er lernte und lernte, übte und übte, und schließlich beherrschte er alles. Er bewegte sich wie ich. Er fühlte, was ich fühle. Er wurde chirurgisch so verändert, dass er aussah wie ich.
    Und dann saß er da, Tag für Tag und Nacht für Nacht, mit Kabeln an meine Maschinen angeschlossen, und passte die Muster seiner lebendigen Gehirnimpulse den meinen an. Bis ich, Stück für Stück, wiederkehrte. Sehen Sie nicht die Genialität? Nein? Sie wenden vielleicht

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