Der goldene Schwarm - Roman
Sie die Polizei anrufen? Wenn nicht, müsste ich Sie nämlich jetzt bitten, uns zu begleiten. Wie ist denn eigentlich Ihr Kofferraum? Gemütlich? Oh, Sie möchten uns doch lieber verlassen? Ja, ich denke, das wird das Beste sein.«
Joe Spork öffnet die Tür. Der Mann nimmt seinen Abschied. Joe rutscht auf den Fahrersitz und wendet sich an Polly, um ihr zu sagen, dass sie natürlich nicht nach Portsmouth fahren, spürt aber im selben Augenblick, wie sich direkt unter seinem Auge ein Austernmesser gegen seine Wange drückt.
»Können wir klarstellen«, raunt Polly Cradle, »dass ich nicht dein trotteliger Sidekick bin und nicht dein Bond-Girl? Dass ich eine ganz eigenständige Superschurkin bin?«
Joe schluckt. »Ja, das können wir«, sagt er vorsichtig.
»In Zukunft wird’s also kein Sag Hallo, Polly mehr geben?«
»Nein, wird’s nicht.«
Das Messer verschwindet augenblicklich, und sie drückt ihre Lippen auf seine. Er spürt ihre Zunge breit und muskulös in seinem Mund.
»Starte den Motor«, sagt sie. »Autodiebstahl finde ich sexy.«
»Genau genommen war dies Autodiebstahl und räuberischer Überfall«, sagt Joe.
»Willst du dafür Extrapunkte?«
»Ja, bitte.«
»Dann sag nicht bitte.«
Von St Albans aus fahren sie Richtung Norden.
Eine kurze Unterhaltung mit Cecily Foalbury, von einem öffentlichen Fernsprecher an einer Tankstelle aus geführt, ergibt, dass die Station Y aus Ted Sholts letztem, verzweifeltem Geständnis besser bekannt ist unter dem Namen Bletchley Park. Cecily macht einen regelrecht beleidigten Eindruck. »Um Himmels willen, das ist doch Allgemeinwissen, Joe. Ich selbst bin mit dir dort gewesen. Sie haben den Enigma-Code geknackt, den Krieg gewonnen. Haben den Colossos-Computer erfunden. Das weißt du doch wohl?«
Doch, natürlich erinnert sich Joe an Bletchley Park mit seinen geheimnisvollen, halb verfallenen Nissenhütten, umringt von verdächtigen kleinen Hügeln, unter denen sich offensichtlich etwas anderes verbirgt, und an das ausladende Haus aus rotem Backstein, das den bedeutendsten Mathematikern, deren das umkämpfte Großbritannien habhaft werden konnte, als Behausung diente. Er war von dem Modelleisenbahnclub, der Teile des Hauses belegte und dessen Mitglieder dabei halfen, die Miete hereinzubekommen, ebenso beeindruckt gewesen wie von dem Harrier-Kampfflugzeug auf dem Rasen. Eine heruntergekommene britische Institution, ihrer Geheimnisse beraubt und der Verwilderung überlassen. In Bletchley Park konnte man beinahe alles verbergen. Wer würde je nachfragen?
Joe hat das Nummernschild des Wagens mit dem eines anderen der gleichen Marke ausgetauscht, und Polly hat das GPS -System außer Kraft gesetzt, sodass das gestohlene Fahrzeug wirksam vom Erdboden verschwunden ist, vorausgesetzt, dass sich niemand den Motorenblock anschaut. Während sie durch die still daliegende Landschaft fahren, entsteht ein merkwürdiges Gefühl von Freiheit.
»Was befindet sich in Bletchley Park?«, fragt Polly, als sie sich Milton Keynes nähern.
Er grinst sie an. »Ein Zug«, sagt er und sieht, wie sie zu lächeln beginnt.
Die Straße, die sie nach der Autobahn Richtung Bletchley Park einschlagen, ist flach und öde. Sie windet sich zwischen sanft geschwungener Landschaft und den modernen Wohnblöcken am spießigen Stadtrand von Milton Keynes, die von ihren Erbauern betont harmonisch und organisch geplant wurden und nun etwas Unmenschliches ausstrahlen. Bletchley Park liegt vor der Stadt, und sie erreichen das Gelände über eine Abzweigung, die schließlich zu einem Punkt führt, der früher gut eine Maschinengewehrstellung gewesen sein könnte. Joe fährt den Wagen sehr ordentlich in eine der Parkbuchten. Auch wenn er dort nichts zu suchen hat, kann man davon ausgehen, dass der typisch englische Kurator etwas, das nicht im Weg steht, geflissentlich ignorieren dürfte.
Die Morgendämmerung setzt ein, und mit ihr steigt die Gefahr, entdeckt zu werden. Joe zögert, kurz besorgt, dass ein später Wachmann oder ein früher Modelleisenbahner sie auf frischer Tat ertappen könnte, aber dann fällt ihm ein, dass ihm das eigentlich ganz egal ist. Er klettert auf das Dach des Tickethäuschens und späht ringsherum ins Zwielicht.
Ted Sholts gestammelte Hinweise sind alles andere als eindeutig gewesen. Joe legt sie über das Terrain wie eine Bleistiftskizze und fügt mithilfe seines Nachtmarkt-Instinkts fürs Verbergen und Täuschen noch eine weitere Blaupause hinzu. Wenn ich hier einen illegalen
Weitere Kostenlose Bücher