Der Goldschmied
anderen Venezianer nieder und begannen, leise zu beten. Gwyn war es übel von all der Anstrengung. Sein Rücken schmerzte, und er fühlte seine Arme kaum noch. Sein Atem wollte sich nicht beruhigen, und er hörte, wie es in seinem Kopf toste.
Mehr als eine Stunde hatte er Barnino über den Gletscher getragen. Nun, wo sie vor dem so lang erwarteten Abstieg ins Tal waren, starb er.
Gwyn musste plötzlich lachen.
Er wollte es nicht. Aber er spürte, dass er es nicht zurückhalten konnte. Er schüttelte sich vor lauter Lachen. Dann weinte er so heftig, wie er lange nicht mehr geweint hatte.
Gwyn war in einen leichten Dämmerschlaf verfallen.
Zacharias, der Älteste der Kaufleute, kniete neben ihm nieder. Behutsam richtete er den Faber auf und begann, dessen Gesicht mit Schnee zu waschen. Dann zog er ihn an sich und wiegte ihn sanft, so wie man ein Kind wiegt, wenn es Angst oder Schmerzen hat. Gwyn fühlte sich für einen herrlichen Moment lang geborgen. Er wünschte sich, nur noch zu schlafen und die letzten Tage mit all den schrecklichen Erlebnissen zu vergessen.
Hektor hatte den Toten in seiner wollenen Decke belassen. Die Venezianer trugen Eisblöcke zusammen und häuften sie stumm zu einem kleinen Hügel auf. Gwyn saß dabei und sah zu, wie das letzte Stück der Decke verdeckt wurde und dann ganz verschwand.
Zacharias murmelte ein Gebet. Dann brachen sie auf.
Der steile Weg führte talwärts. Kniehoher, verharschter Schnee wechselte mit glatten Eisflächen, für welche die Reisenden besondere Geduld brauchten. Die ausgehungerten Maultiere fürchteten sich davor, die Eisflächen zu begehen.
Hektor aber trieb die Gruppe mehr und mehr zur Eile. Es war noch einige Zeit hell. Aber jetzt schien er die letzten Kräfte anzusprechen. Noch einmal würden sie keine Nacht hier oben im Berg verbringen. Alle fürchteten nun das Geheimnisvolle noch mehr als die Kälte. Die Venezianer hatten bestimmt viel in ihrem Leben gesehen. Hektor hegte den gleichen Aberglauben wie die meisten Menschen dieser Zeit. Gwyn war aufgrund seines aufgeklärten Lehrmeisters sicherlich weit weniger zu erschrecken als manch andere Menschen. Doch die unerklärliche Todesangst des jungen Venezianers hatte allen Furcht eingeflößt. Nicht für alle Schätze dieser Welt wollte einer von ihnen noch einmal eine Nacht auf dem Berg verbringen. So stolperten und taumelten sie den steilen Hang hinunter, stürzten hin, ein, zwei Schritte rutschend, um sich sogleich wieder aufzurichten und Hektor zu folgen. Die Knie blutig, die wenigen Kleider in Fetzen, folgten sie ihm, der mit traumwandlerischer Sicherheit die gefährlichen Stellen umging. Gwyn rutschte immer wieder aus, und es war mühsam für ihn, sich wieder aufzurichten. Jeder Schritt kostete ihn Kraft, aber nicht, weil er noch immer unter der dünnen Luft litt. Eher hätte er sich niedergesetzt, um etwas zu ruhen, und er hatte Hunger.
Hektor hatte ihnen von einer Hütte versprochen, die er in dieser Gegend wähnte …
Fromme Männer lebten hier oben, weitab von den übrigen Menschen. Sie trieb der Wunsch nach völliger Einsamkeit. Hektor schien auf das Gesetz der Gastfreundschaft zu vertrauen.
Er hoffte, auf solch einen einsamen Eremiten zu treffen. Vorausgesetzt, sie stiegen nur rasch genug hinunter.
Allmählich verschwanden die großen Schneeflächen und machten Platz für endlos graue Geröllfelder. Die Reisenden hatten die unsichtbare Grenze zwischen dem ewigen Eis und dem kargen Felsboden erreicht. Jetzt kamen sie mit jedem Schritt dem weiten, dunklen Grund eines fernen Tales näher. Gwyn spürte allmählich noch ein paar Kräfte in sich, von denen er nicht mehr geglaubt hatte, dass er sie noch besaß.
Hektor hatte unvermittelt angehalten. Er stützte sich auf seinen Wanderstab und verschnaufte lang. Durch den ersten Nebel der aufziehenden Dämmerung waren dichte Wälder zu erkennen. Auf den Baumwipfeln schimmerte noch etwas Reif, aber sonst war das Tal schneefrei. Die Maultiere hatten gehalten und begannen gierig, das karge Gras, das hier wuchs, zu fressen.
Außer der leisen Melodie des Windes war kein Laut zu hören.
»Wir sind auf der anderen Seite des Schneegebirges«, sagte Hektor müde.
»Die Ebene der Lombarden liegt vor uns. Sind noch wenigstens zehn Tagesreisen bis zum Meer. Aber keine hohen Berge mehr.«
Die Reisenden hatten den Weg über das Schneegebirge geschafft. Einen Weg, den keiner von ihnen je wieder in seinem Leben gehen mochte.
So wie Hektor es vorausgesagt hatte,
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