Der Graben: Thriller (German Edition)
sicher aus dieser Lage befreien würde.
Irgendwo gab es eine Verbindung zwischen dem Verschwi nden ihres Vaters im Jahre 1994 und dem der Fujimuras. Es war ein kausaler Zusammenhang. Worin bestand er? Saeko wurde klar, dass immer jemand im Hintergrund die Fäden gezogen hatte. Dieser Jemand war Seiji Fujimura.
Die in den Stein gravierte vogelartige Gestalt, die hinter Viracocha hervorlugte, hatte bei den Ruinen von Tiwanaku in Bolivien die Aufmerksamkeit ihres Vaters erregt. Das hatte Haruko bemerkt und ihn auf die Ähnlichkeit mit Seiji hingewiesen. Sie musste noch etwas gesagt haben. Wegen einer zufälligen Ähnlichkeit wäre ihr Vater nicht extra nach Takato gekommen, egal wie sehr die Gestalt Seiji glich. Nein, da musste noch etwas anderes sein. Griechische und römische Steinschnitzereien waren für ihre realistischen Darstellungen bekannt, doch ältere Arbeiten waren eher abstrakt. Ihr Vater hatte noch etwas anderes entdeckt, das ihn veranlasste, die Reise nach Takamatsu aufzugeben und direkt nach Takato zu fahren, nachdem er zurück in Japan war. Was konnte der Grund dafür gewesen sein?
Das Relief war also nur der Anfang, der Auslöser gewesen. Als Haruko die Ähnlichkeit aufgefallen war, musste sie Saekos Vater noch irgendetwas anderes über Seiji erzählt haben… War es etwas über seinen Hintergrund, seine Persönlichkeit, etwas Äußerliches? Vielleicht hatte sie gesagt, ihre Gesichter glichen sich bis hin zu den Vorsprüngen an der Stirn. Vorsprünge an der Stirn – Hörner. Das Symbol des Teufels.
Doch das war es nicht. Saeko sah Seiji an, aber auf seiner Stirn war keine Spur von Hörnern zu entdecken. Sie war glatt bis hinauf zu seinem zurückweichenden Haaransatz. Die Hörner waren es also nicht. Saeko zermarterte sich das Hirn; sie war sich sicher, dass es irgendein physisches Merkmal war, das Haruko überhaupt auf das Thema Seiji gebracht hatte. Es musste etwas Hervorstechendes sein, etwas Offensichtliches. Ihr Vater hatte keine Zeit für vage Ideen.
Saeko dachte an ihren Vater. Hatte er irgendetwas Hervorstechendes an sich, etwas Einmaliges? Dann fiel es ihr ein: Er hatte eine dritte Brustwarze.
Das hatte sie völlig vergessen. Als sie klein war, hatte ihr Vater immer mit ihr zusammen gebadet, und eines Tages hatte er ihre Hand genommen und an einen Knubbel auf seiner Brust geführt.
»Sae, weißt du, was das ist?«
Sie erinnerte sich, dass der Knubbel sich wie eine Warze angefühlt hatte, ein bisschen gummiartig unter ihrem kleinen Finger.
»Ein Muttermal? Oder ist es eine Warze?«
Ihr Vater lachte, dann begann er zu erklären:
»Man nennt das Mamma accessoria. Das ist der Beweis, dass wir von Säugetieren abstammen. Hunde, Kühe und Pferde haben eine ganze Menge davon.«
Nachdem sie an jenem Abend aus der Badewanne gestiegen war, hatte Saeko den Begriff sofort in einem illustrierten Lexikon mit dem Titel Die Geschichte des Atavismus nachgeschlagen. Sie hatte gelernt, dass zahlreiche Föten von Säugetieren vier Brustpaare haben und bei menschlichen Föten sogar die Anlagen für fünf Brustdrüsen beobachtet wurden.
Da der Genotyp den Phänotyp bestimmt, macht der menschliche Fötus in seiner Entwicklung die gesamte Evolution vom Leben im Wasser über das Stadium von Reptil und Säugetier durch, bevor er als Baby zur Welt kommt. Manchmal blieben im Laufe dieses Prozesses Überreste jener Evolution zurück, und die akzessorische Mamille war ein solcher.
Die zusätzliche Brustwarze war ein Überbleibsel aus früheren Säugetierstadien; beim Menschen finden sie sich irgendwo entlang der Linie zwischen Achselhöhlen und Lende. Saeko las, dass bis zu 1,5 Prozent aller männlichen Japaner dieses Merkmal trugen; es kam also gar nicht so selten vor. Der Fall ihres Vaters war jedoch seltener, da er nur eine zusätzliche Brustwarze hatte. Normalerweise erschienen sie paarweise, auf jeder Seite eine.
Sie hatten nur an jenem Abend über das Thema gesprochen. Nun, da sie sich erstmals nach vielen Jahren daran erinnerte, dachte Saeko wieder an den Knoten in ihrer Brust, den sie erst vor einem Monat entdeckt hatte. Ihr war nie der Gedanke gekommen, zwischen beidem eine Verbindung zu sehen.
Vielleicht ist der Knoten eine zusätzliche Brustwarze, wie die meines Vaters, die nur auf einer Seite auftaucht?
Saeko hätte gern die Hand auf den Knoten gelegt, um genau zu fühlen, wo er sich befand, doch sie wollte Seijis perverse Neigungen in keiner Weise provozieren.
Was, wenn das die Verbindung war?
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