Der Graf von Monte Christo 2
Gefühl der Sohnesliebe zu ertöten.
M S
Als Albert nach Hause zurückgekehrt war und vom Pferd stieg, glaubte er hinter dem Vorhang im Schlafzimmer seines Vaters dessen bleiches Gesicht zu bemerken; er wandte mit einem Seufzer den Kopf und trat in seine Gemächer. Hier warf er einen letzten Blick auf alle die Schätze, die ihm seit seiner Kindheit das Leben so süß und glücklich gemacht hatten. Dann löste er das Bild seiner Mutter aus dem Goldrahmen und rollte es zusammen; er sah seine Schränke durch und steckte in jeden den Schlüssel, warf alles Taschengeld, das er bei sich hatte, in eine Schublade, die er off enstehen ließ, fügte alle Kleinodien hinzu, stellte ein genaues Verzeichnis zusammen und legte es auf einen Tisch, wo es auf den ersten Blick sichtbar sein mußte.
Während er noch mit dieser Arbeit beschäftigt war, trat sein Diener ein, obwohl er ihm befohlen hatte, ihn nicht zu stören.
»Was willst du?« fragte Morcerf, eher traurig als böse.
»Verzeihen Sie, gnädiger Herr, aber der Herr Graf von Morcerf hat mich rufen lassen, und ich habe erst Ihre Befehle einholen wollen.«
»Warum?«
»Weil der Graf jedenfalls weiß, daß ich den gnädigen Herrn zu dem Duell begleitet habe.«
»Wahrscheinlich«, sagte Albert.
»Er wird mich ausfragen wollen, was vorgefallen ist. Was soll ich antworten?«
»Die Wahrheit.«
»Ich soll also sagen, daß das Duell nicht stattgefunden hat?«
»Du sagst, daß ich dem Grafen von Monte Christo Abbitte getan habe; geh.«
Albert machte sich dann wieder an seine Arbeit. Als er damit fertig war, hörte er einen Wagen im Hof vorfahren; er trat ans Fenster und sah seinen Vater in den Wagen steigen und abfahren.
Kaum hatte sich das Tor hinter dem Grafen geschlossen, da begab sich Albert nach den Gemächern seiner Mutter; niemand war dort, um ihn anzumelden, deshalb ging er bis zu dem Schlafzimmer Mercedes’ und blieb, das Herz geschwellt von dem, was er sah und erriet, in der Tür stehen.
Als ob eine Seele diese beiden Körper belebt hätte, tat Mercedes in ihrem Zimmer dasselbe, was Albert eben bei sich getan hatte. Alles war in Ordnung gebracht: Spitzen, Schmuck, Kleinodien, Wäsche, Geld waren in die Schubladen getan. Albert sah alle diese Vorbereitungen und verstand. Er eilte auf seine Mutter zu und legte seine Arme um ihren Hals. »Meine Mutter«, rief er. Diese Zurüstungen, die Kunde von dem Entschluß seiner Mutter gaben, erschreckten ihn, obwohl er für sich selbst denselben Entschluß gefaßt hatte.
»Was machen Sie denn?« fragte er.
»Was machtest du?« antwortete sie.
»O Mutter!« rief Albert, der vor Bewegung kaum sprechen konnte,
»mit Ihnen ist es nicht so wie mit mir. Nein, Sie können nicht dasselbe beschlossen haben wie ich, denn ich komme, um Ihnen mitzuteilen, daß ich dem Hause … und Ihnen Lebewohl sage.«
»Auch ich gehe fort, Albert«, antwortete Mercedes. »Ich hatte allerdings damit gerechnet, daß mein Sohn mich begleiten würde; habe ich mich getäuscht?«
»Liebe Mutter«, sagte Albert mit Festigkeit, »ich kann Sie das Schicksal, das ich für mich bestimme, nicht teilen lassen; ich muß von nun an ohne Namen und Vermögen leben; ich muß, um die Lehrzeit dieses rauhen Daseins zu beginnen, von einem Freund das Brot borgen, das ich essen werde, bis ich etwas verdiene. Ich will deshalb zu Franz gehen und ihn bitten, mir die kleine Summe zu leihen, die ich nach meiner Berechnung nötig habe.«
»Mein armes Kind!« rief Mercedes. »Du solltest Elend, Hunger leiden! Oh, sage so etwas nicht, du würdest alle meine Entschlüsse vernichten.«
»Aber nicht die meinen, liebe Mutter«, antwortete Albert. »Ich bin jung, ich bin stark, ich glaube, daß ich mutig bin, und seit gestern habe ich erfahren, was der Wille vermag. Ach, Mutter, es gibt Leute, die so viel gelitten haben und die nicht nur nicht gestorben sind, sondern die sich auf den Trümmern aller Hoff nungen ein neues Glück aufgebaut haben. Ich habe das erfahren, Mutter, habe diese Männer gesehen; ich weiß, daß sie sich aus der Tiefe des Abgrunds, in den ihr Feind sie gestürzt hatte, mit so viel Kraft und Ruhm erhoben haben, daß sie ihren einstigen Besieger überwunden und seinerseits hinabgestürzt haben. Nein, Mutter, nein; von heute ab habe ich mit der Vergangenheit gebrochen und will nichts mehr von ihr behalten, selbst nicht meinen Namen, weil – Sie verstehen das doch, Mutter? – Ihr Sohn nicht den Namen eines Mannes tragen
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