Der Graf von Monte Christo 2
Doktors zu, Villefort war noch immer wie vernichtet. D’Avrigny allein war mit den Augen Frau von Villefort gefolgt und hatte bemerkt, wie eilig sie sich entfernte. Er hob den Türvorhang und konnte durch das Zimmer Eduards in das der Frau von Villefort sehen. Frau von Villefort lag ausgestreckt und bewegungslos auf dem Boden.
»Stehen Sie Frau von Villefort bei«, sagte er zu der Pfl egerin; »sie ist ohnmächtig geworden.«
»Aber Fräulein Valentine?« stammelte die Pfl egerin.
»Fräulein Valentine braucht keine Hilfe mehr«, antwortete d’Avrigny, »Fräulein Valentine ist tot.«
»Tot, tot!« schrie Villefort in tiefstem Schmerz, der ihn um so mehr zerriß, als er neu, unbekannt, unerhört für dieses Herz von Stein war.
»Tot, sagen Sie?« rief eine dritte Stimme, »Wer hat gesagt, daß Valentine tot sei?«
Die beiden Männer wandten sich um und sahen Morrel bleich, bestürzt, mit entstelltem Gesicht in der Tür stehen.
Folgendes hatte sich zugetragen:
Morrel hatte sich um seine gewohnte Stunde an der Nebentür eingefunden, um zu Noirtier zu gehen. Gegen die Gewohnheit fand er die Tür off en; er brauchte also nicht zu klingeln und trat ein. Im Vestibül wartete er einen Augenblick und rief nach einem Dienstboten, der ihn zu dem alten Noirtier führen sollte. Aber es hatte niemand geantwortet; die Dienstboten hatten das Haus verlassen.
Morrel hatte an diesem Tag keinen besonderen Grund, unruhig zu sein; er hatte das Versprechen Monte Christos, daß Valentine am Leben bleiben werde, und bis dahin war das Versprechen getreulich gehalten worden. Der Graf hatte ihm jeden Abend gute Nachrichten gegeben, die Noirtier selbst am andern Morgen bestätigte.
Es erschien ihm indessen sonderbar, daß das Haus so verlassen war; er rief zum zweitenmal, zum drittenmal, dieselbe Stille. Da entschloß er sich nach oben zu gehen. Die Tür Noirtiers war off en wie die andern Türen. Das erste, was er sah, war der Greis in seinem Lehnstuhl an seinem gewohnten Platz; seine weitgeöff neten Augen schienen einen inneren Schrecken auszudrücken, den die seltsame Blässe der Züge bestätigte.
»Wie geht es Ihnen?« fragte der junge Mann nicht ohne eine gewisse Beklemmung.
»Gut«, antwortete der Greis durch ein Augenzwinkern. Aber die Unruhe auf seinem Gesicht schien zuzunehmen.
»Sie haben etwas«, sagte Morrel. »Soll ich jemand von Ihren Leuten rufen?«
»Ja«, antwortete Noirtier.
Morrel zog wiederholt an der Klingelschnur, aber niemand kam.
Er sah Noirtier an, dessen Gesichtsausdruck eine wachsende Angst zeigte.
»Mein Gott, warum kommt denn niemand?« fragte Morrel. »Ist im Hause jemand krank?«
Die Augen des Greises schienen aus ihren Höhlen treten zu wollen.
»Aber was haben Sie denn?« fuhr Morrel fort. »Sie erschrecken mich. Valentine! Valentine …!«
»Ja, ja«, machte Noirtier.
Maximilian öff nete den Mund, um zu sprechen, konnte aber keinen Laut hervorbringen; er taumelte und hielt sich am Getäfel fest.
Dann streckte er die Hand nach der Tür aus.
»Ja, ja, ja«, bekundete der Greis.
Maximilian stürzte zu der kleinen Treppe, während der Greis ihm mit den Augen zuzurufen schien: Schneller, schneller!
Eine Minute genügte dem jungen Mann, um durch mehrere Zimmer zu eilen, die einsam waren wie das übrige Haus, und das Zimmer Valentines zu erreichen. Die Tür brauchte er nicht zu öff -
nen, sie stand weit off en.
Ein Seufzer war der erste Laut, den er vernahm. Er sah wie durch eine Wolke eine schwarze Gestalt, die in einer wirren Masse wei-
ßer Stoff e kniete. Angst, entsetzliche Angst nagelte ihn an die Schwelle.
In diesem Augenblick hörte er eine Stimme, die sagte; »Valentine ist tot«, und eine zweite, die wie ein Echo antwortete: »Tot! Tot!«
M
Villefort erhob sich fast beschämt, im Anfall dieses Schmerzes überrascht worden zu sein. Sein wirrer Blick heftete sich auf Morrel.
»Wer sind Sie, mein Herr«, sagte er. »Sie vergessen, daß man ein Haus, worin der Tod wohnt, nicht auf diese Weise betritt. Gehen Sie, mein Herr, gehen Sie!«
Aber Morrel blieb unbeweglich stehen, er konnte seine Augen nicht von dem schrecklichen Anblick dieses in Unordnung gerate-nen Bettes und der darin liegenden Toten losreißen.
»Gehen Sie, hören Sie«, rief Villefort, während d’Avrigny seinerseits vortrat, um Morrel zum Gehen zu veranlassen.
Dieser betrachtete mit verwirrten Augen den Leichnam, die beiden Männer, das ganze Zimmer, schien einen Augenblick zu
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