Der Graf von Monte Christo 2
schlug, erwachte sie. Erstaunt über den langen Schlaf des jungen Mädchens und erschrocken über den Arm, der aus dem Bett hing und den die Schlafende nicht wieder an sich gezogen hatte, trat sie an das Kopfende des Bettes, und jetzt erst bemerkte sie, daß in Valentine kein Leben mehr war.
Sie wollte den Arm an den Körper legen, aber der Arm gab nur mit jener entsetzlichen Starrheit nach, über die sich eine Pfl egerin nicht täuschen konnte.
Sie stieß einen Schreckensschrei aus, dann lief sie zur Tür und rief: »Hilfe, Hilfe!«
»Was heißt das, Hilfe?« antwortete unten von der Treppe die Stimme d’Avrignys, der gewöhnlich um diese Zeit kam.
»Wieso Hilfe?« rief die Stimme Villeforts, der aus seinem Arbeitszimmer stürzte. »Doktor, haben Sie nicht Hilfe rufen hören?«
»Ja, ja, gehen wir nach oben, zu Valentine«, antwortete der Doktor.
Aber noch ehe der Arzt und der Vater eingetreten waren, hatten die Dienstboten, die sich in den Zimmern und Gängen desselben Stockwerks befanden, das Zimmer betreten, und als sie Valentine bleich und unbeweglich im Bett liegen sahen, hoben sie die Arme zum Himmel und taumelten wie vom Schwindel befallen.
»Ruft die gnädige Frau! Weckt die gnädige Frau!« rief der Staatsanwalt an der Tür des Zimmers, das er, wie es schien, nicht zu betreten wagte.
Aber die Dienstboten sahen Herrn d’Avrigny an, der ans Bett geeilt war und Valentine in seinen Armen aufrichtete.
»Auch diese wieder …«, murmelte er, indem er sie fallen ließ. »O
mein Gott, mein Gott, wann wirst du es müde werden?«
Villefort stürzte ins Zimmer. »Was sagen Sie?« rief er, beide Hände zum Himmel erhebend. »Doktor …! Doktor!«
»Ich sage, daß Valentine tot ist!« antwortete d’Avrigny mit feierlicher, schrecklicher Stimme.
Villefort stürzte nieder, als ob ihm die Beine gebrochen wären, und sank mit dem Kopf auf das Bett Valentines.
Bei den Worten des Doktors, dem Aufschrei des Vaters fl ohen die Dienstboten entsetzt und mit dumpfen Verwünschungen davon; man hörte ihre eiligen Schritte auf den Treppen und Gängen, dann eine große Bewegung in den Höfen, und darauf wurde es still; sie hatten vom ersten bis zum letzten das fl uchbeladene Haus verlassen.
In diesem Augenblick hob Frau von Villefort, die den einen Arm halb unter ihrem Morgenrock hatte, den Türvorhang; einen Augenblick blieb sie auf der Schwelle stehen, indem sie die Anwesenden mit fragenden Blicken ansah und einige widerspenstige Tränen zu Hilfe rief. Plötzlich aber tat sie einen Schritt oder vielmehr einen Sprung vorwärts, indem sie die Arme nach dem Tisch ausstreckte.
Sie hatte d’Avrigny sich aufmerksam über den Tisch beugen und das Glas hochheben sehen, das sie, wie sie sicher war, in der Nacht ausgegossen hatte.
Das Glas war zu einem Viertel voll, gerade wie es gewesen war, als sie den Inhalt in die Asche geschüttet hatte. Wenn der Geist Valentines vor der Giftmischerin aufgestanden wäre, er hätte weniger Eindruck auf sie gemacht.
In der Tat, es ist genau die Farbe des Trankes, den sie in Valentines Glas gegossen und den diese getrunken hat; es ist das Gift, das das Auge d’Avrignys nicht täuschen kann und das dieser aufmerksam betrachtet! Es ist ein Wunder, das Gott jedenfalls getan hat, damit trotz der Vorsicht des Mörders eine Spur, ein Beweis, eine Anzeige des Verbrechens zurückbliebe.
Während Frau von Villefort unbeweglich wie der verkörper-te Schrecken dastand und Villefort, den Kopf in die Tücher des Totenbettes vergraben, nichts von dem sah, was um ihn her vorging, trat d’Avrigny ans Fenster, um den Inhalt des Glases besser betrachten zu können. Er tauchte die Fingerspitze ein und kostete einen Tropfen.
»Ah!« murmelte er, »es ist jetzt kein Bruzin mehr; laß sehen, was es ist!«
Er eilte an einen der Schränke in Valentines Zimmer, der in eine Apotheke verwandelt worden war, nahm ein Fläschchen Salpeter-säure und ließ einige Tropfen davon in die opalfarbene Flüssigkeit fallen, die sofort hochrot wurde.
»Ah!« sagte d’Avrigny zugleich mit dem Abscheu des Richters, dem sich die Wahrheit enthüllt, und der Freude des Gelehrten, dem sich ein Problem löst.
Frau von Villefort drehte sich um, ihre Augen schleuderten Flam-men und erloschen dann; sie suchte taumelnd die Tür und verschwand. Einen Augenblick später hörte man aus einiger Entfernung ein Geräusch wie von einem Körper, der zu Boden fällt, aber niemand achtete darauf. Die Pfl egerin sah dem Experiment des
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