Der Graf von Monte Christo 2
Banknoten von je tausend Franken enthielt, und sagte: »Da, nimm diese Brieftasche.«
»Sie schenken sie mir?«
»Ja, aber unter der Bedingung, daß du erst dann hineinsiehst, wenn ich fort bin.«
Er verbarg die Reliquie, die er wiedergefunden hatte und die für ihn den Wert des größten Schatzes besaß, auf der Brust, eilte aus den Gewölben und stieg wieder in die Barke.
»Nach Marseille!« sagte er.
Während er davonfuhr, sagte er, indem er das fi nstere Gefängnis ansah: »Wehe denjenigen, die mich in dieses fi nstere Gefängnis haben einschließen lassen, und denjenigen, die vergessen haben, daß ich dort eingeschlossen war!«
Als sie an dem Katalonierdorf vorüberfuhren, wandte der Graf sich ab und murmelte, indem er den Kopf in den Mantel hüllte, den Namen einer Frau.
Der Sieg war vollständig; der Graf hatte zweimal den Zweifel zu Boden geschlagen.
Der Name, den er mit einem Ausdruck von Zärtlichkeit, die fast Liebe war, aussprach, war der Name Haidees.
Als er wieder an Land gestiegen war, begab er sich zu dem Friedhof, wo er, wie er wußte, Morrel wiedertreff en würde.
Auch Monte Christo hatte vor zehn Jahren auf diesem Friedhof ein Grab gesucht, aber vergeblich. Er, der mit Millionen nach Frankreich zurückkam, hatte das Grab seines vor Hunger gestorbenen Vaters nicht fi nden können.
Der Reeder Morrel hatte allerdings ein Kreuz darauf setzen lassen, aber dieses Kreuz war umgefallen, und der Totengräber hatte es als Brennmaterial benutzt.
Der würdige Kaufmann war glücklicher gewesen. Er war in den Armen seiner Kinder gestorben, war von ihnen zu Grabe geleitet und an der Seite seiner Frau beigesetzt worden, die ihm zwei Jahre vorausgegangen war.
Zwei große Marmorplatten, die ihre Namen trugen, waren inmitten eines Gitters nebeneinander aufgerichtet, und die Gräber wurden von vier Zypressen beschattet.
Maximilian lehnte an einem dieser Bäume und blickte mit Augen, die nichts wahrnahmen, auf die beiden Gräber.
Sein Schmerz war tief, fast wild.
»Maximilian«, redete ihn der Graf an, »nicht dahin müssen Sie den Blick richten, sondern dorthin!«
Und er zeigte zum Himmel.
»Die Toten sind überall«, entgegnete Morrel; »haben Sie selbst mir das nicht gesagt, als Sie mich veranlaßt haben, Paris zu verlassen?«
»Maximilian«, sagte der Graf, »Sie haben mich unterwegs gebeten, Sie einige Tage in Marseille zu lassen. Ist das noch Ihr Wunsch?«
»Ich habe keinen Wunsch mehr, Graf; nur scheint es mir, daß mir in Marseille das Warten weniger lästig sein wird als anderswo.«
»Um so besser, Maximilian, denn ich verlasse Sie und nehme Ihr Wort mit, nicht wahr?«
»Oh, ich werde es vergessen, Graf«, antwortete Morrel, »ich werde es vergessen!«
»Nein, Sie werden es nicht vergessen, weil Sie vor allem ein Ehrenmann sind, Morrel; weil Sie geschworen haben und nochmals schwö-
ren werden.«
»O Graf, haben Sie Mitleid mit mir! Graf, ich bin so unglücklich!«
»Ich habe einen noch viel Unglücklicheren gekannt als Sie, Morrel.«
»Unmöglich.«
»Ach«, sagte Monte Christo, »das ist ein Stolz unsres armen Men-schengeschlechts, daß jeder sich für noch unglücklicher hält als ein andrer Unglücklicher, der neben ihm weint und seufzt.«
»Was gibt es Unglücklicheres als den Mann, der das einzige, was er auf der Welt liebte und begehrte, verloren hat?«
»Hören Sie mich an, Morrel«, sagte Monte Christo, »und richten Sie einen Augenblick Ihren Sinn auf das, was ich Ihnen sage. Ich habe einen Mann gekannt, der gleich Ihnen all seine Hoff nung auf eine Frau gesetzt hatte. Dieser Mann war jung, er hatte einen alten Vater, den er liebte, eine Braut, die er anbetete; er war im Begriff , sie zu heiraten, als plötzlich eine jener Launen des Schicksals ihm die Freiheit und die Geliebte, die Zukunft, die er erträumte und schon sein zu nennen glaubte, nahm, um ihn in die Tiefe eines Kerkers zu werfen.«
»Oh«, entgegnete Morrel, »man kommt nach acht Tagen, einem Monat, einem Jahr wieder aus dem Kerker heraus.«
»Er blieb vierzehn Jahre darin, Morrel«, sagte der Graf, indem er dem jungen Mann die Hand auf die Schulter legte.
Maximilian schauderte.
»Vierzehn Jahre!« murmelte er.
»Vierzehn Jahre«, wiederholte der Graf; »auch er hatte während dieser vierzehn Jahre viele Augenblicke der Verzweifl ung; auch er wollte sich wie Sie, da er sich für den Unglücklichsten der Menschen hielt, das Leben nehmen.«
»Nun?« fragte Morrel.
»Nun, im letzten Augenblick faßte er
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