Der Graf von Monte Christo 2
Danglars, »dieses Bett ist wahrscheinlich einer der Särge in den Mauern; der Schlaf ist der Tod, den einer der Dolche, die ich im Schatten funkeln sehe, mir bereiten wird.«
In der Tat sah man in den düsteren Tiefen des mächtigen Saales die Gefährten des Hauptmanns sich von ihren Lagern aus Heu oder Wolfsfellen erheben.
Der Bankier stieß ein dumpfes Stöhnen aus und folgte seinem Führer; er versuchte weder zu bitten noch zu rufen. Er hatte weder Kraft noch Willen noch Gefühl mehr; er ging, weil man ihn fortzog.
Er stieß gegen eine Stufe; er begriff , daß er eine Treppe vor sich habe, und bückte sich instinktmäßig, um sich nicht den Kopf ein-zustoßen. Er stieg die Treppe hinab und befand sich in einer in den Felsen gehauenen Zelle.
Diese Zelle war reinlich, obgleich kahl, trocken, obgleich sie sich in einer unmeßbaren Tiefe unter der Erde befand.
Ein Lager aus trockenem, mit Ziegenfellen bedecktem Heu befand sich in einem Winkel dieser Zelle.
Als Danglars es erblickte, glaubte er das strahlende Symbol seiner Rettung zu sehen.
»Oh, Gott sei gelobt!« murmelte er. »Es ist ein wirkliches Bett!«
Zum zweitenmal seit einer Stunde rief er den Namen Gottes an, was ihm seit zehn Jahren nicht passiert war.
Der Führer stieß Danglars in die Zelle und schloß die Tür hinter ihm.
Ein Riegel knirschte; Danglars war ein Gefangener.
Wäre übrigens auch kein Riegel dagewesen, so hätte man doch der heilige Petrus sein und einen Engel des Himmels zum Führer haben müssen, um mitten durch die Besatzung zu kommen, die um den Hauptmann herum in den Katakomben von San Sebastian kam-pierte. Dieser Hauptmann war der berühmte Luigi Vampa.
Danglars hatte diesen Banditen erkannt, an dessen Existenz er nicht hatte glauben wollen, als Morcerf von ihm erzählt hatte. Er hatte nicht nur den Hauptmann erkannt, sondern auch die Zelle, in der Morcerf eingesperrt gewesen war und die aller Wahrscheinlichkeit nach das Fremdenquartier war.
Diese Erinnerungen, die sich Danglars mit einer gewissen Freude zurückrief, gaben ihm die Ruhe wieder. Da die Banditen ihn nicht sofort getötet hatten, so hatten sie überhaupt nicht die Absicht, ihm ans Leben zu gehen.
Man hatte ihn festgenommen, um ihn zu bestehlen, und da er nur einige Louisdors bei sich hatte, würde man ihm ein Lösegeld auferlegen.
Er erinnerte sich, daß Morcerf auf etwa viertausend Taler geschätzt worden war; da er überzeugt war, den Eindruck eines viel bedeu-tenderen Mannes zu machen als Morcerf, so setzte er selbst sein Lösegeld auf achttausend Taler fest.
Achttausend Taler machten achtundvierzigtausend Livres.
Es blieben ihm noch etwa fünf Millionen fünfzigtausend Franken.
Damit hilft man sich überall durch.
Ziemlich sicher, daß er sich aus der Sache ziehen werde, da es noch nie vorgekommen war, daß man jemand auf fünf Millionen fünfzigtausend Franken geschätzt hätte, streckte er sich auf seinem Lager aus und schlief, nachdem er zwei- oder dreimal seine Lage gewechselt hatte, mit der Ruhe des Helden ein, dessen Geschichte Luigi Vampa studierte.
L V S
Danglars erwachte.
Seine erste Bewegung war zu atmen, um sich zu überzeugen, daß er nicht verwundet war; es war dies ein Mittel, das er im Don Quichotte gefunden hatte, dem einzigen Buch, nicht, das er gelesen, aber aus dem er etwas behalten hatte.
»Nein«, sagte er, »sie haben mich weder getötet noch verletzt, aber sie haben mich vielleicht bestohlen.«
Er faßte rasch nach seinen Taschen; sie waren unberührt; die hundert Louisdors, die er für seine Reise von Rom nach Venedig bestimmt hatte, befanden sich noch in seiner Hosentasche, und die Brieftasche mit dem Kreditbrief von fünf Millionen fünfzigtausend Franken steckte noch im Überrock.
Sonderbare Banditen, die mir meine Börse und Brieftasche gelassen haben! sagte er sich. Wie ich mir gestern beim Schlafengehen sagte, wollen sie ein Lösegeld von mir haben. Da ist ja auch noch meine Uhr! Laß sehen, welche Zeit es ist!
Die kostbare Repetieruhr, die er gestern vor Antritt seiner Reise sorgfältig aufgezogen hatte, schlug halb sechs Uhr morgens. Ohne sie wäre Danglars über die Zeit vollständig im Ungewissen gewesen, da kein Tageslicht in die Zelle drang.
Sollte er eine Auseinandersetzung mit den Banditen veranlassen?
Sollte er geduldig warten, bis sie selbst anfangen würden? Das letztere war das klügste: Danglars wartete.
Er wartete bis Mittag.
Während
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