Der Graf von Monte Christo 2
unmöglich. Indessen«, fuhr der Staatsanwalt fort, indem er sich faßte und den Arzt unruhig ansah, »indessen, wenn Sie es wollen, wenn Sie es durchaus fordern, so werde ich es tun. In der Tat, vielleicht muß ich diese Sache verfolgen; mein Amt verlangt es.
Aber, Doktor, Sie sehen mich im voraus von Trauer überwältigt; nach so viel Schmerz mein Haus zum Schauplatz solch eines Skandals zu machen! Oh, meine Frau und meine Tochter werden das nicht überleben; und ich, Doktor, Sie wissen, daß ein Mann nicht die Stellung erreicht, die ich einnehme, nicht fünfundzwanzig Jahre Staatsanwalt gewesen ist, ohne sich Feinde gemacht zu haben, und ich habe zahlreiche. Wenn diese Sache in die Öff entlichkeit kommt, wird es für sie ein Triumph sein, und ich werde mit Schande bedeckt werden.
Doktor, verzeihen Sie mir diese weltlichen Gedanken. Wären Sie ein Priester, würde ich Ihnen das nicht zu sagen wagen; aber Sie sind ein Mensch, Sie kennen die andern Menschen. Doktor, Doktor, Sie haben mir nichts gesagt, nicht wahr?«
»Mein lieber Herr von Villefort«, antwortete der Doktor erschüttert, »meine erste Pfl icht ist Menschlichkeit. Ich hätte Frau von Saint-Méran gerettet, wenn die Wissenschaft die Macht dazu gehabt hätte; aber sie ist gestorben, und ich gehöre den Lebenden. Begraben wir dieses schreckliche Geheimnis im tiefsten Herzen. Wenn sich jemandem die Augen darüber öff nen, so werde ich mein Schweigen meiner Unwissenheit zuschreiben lassen. Indessen. Herr von Villefort, suchen Sie, suchen Sie eifrig, denn vielleicht bleibt es nicht bei diesem einen Fall … Und wenn Sie den Schuldigen gefunden haben, so sage ich Ihnen: Sie sind Staatsanwalt, tun Sie, was Sie wollen!«
»O Dank, Dank, Doktor!« sagte Villefort mit unbeschreiblicher Freude, »ich habe nie einen bessren Freund gehabt als Sie.«
Und als ob er fürchtete, daß der Doktor andern Sinnes werden könnte, stand er auf und zog ihn dem Hause zu.
Sie entfernten sich. Morrel steckte, wie um freier zu atmen, den Kopf aus dem Dickicht, und der Mond beschien sein bleiches Gesicht.
»Valentine, arme Freundin!« sagte er. »Wird sie so vielen Kummer ertragen können?«
Er betrachtete dabei abwechselnd das Fenster mit den roten und die drei Fenster mit den weißen Vorhängen. Hinter dem ersten war das Licht fast vollständig verschwunden; jedenfalls brannte dort nur noch eine Nachtlampe. Am Ende des Gebäudes dagegen wurde eins der drei Fenster mit den weißen Vorhängen geöff net. Eine auf den Kamin gestellte Kerze warf einige bleiche Strahlen nach außen, und ein Schatten stützte sich einen Augenblick auf den Balkon. Morrel erbebte; es war ihm, als ob er ein Schluchzen gehört habe.
Es war nicht zu verwundern, daß diese sonst so mutige und starke Seele, durch die beiden stärksten menschlichen Leidenschaften, Liebe und Furcht, erregt, so geschwächt war, daß sie eine Beute abergläubischer Halluzinationen wurde. Obgleich es unmöglich war, daß Valentine ihn sehen konnte, glaubte er sich von dem Schatten am Fenster gerufen; er sprang aus seinem Versteck hervor, lief bis zu den vor dem Haus stehenden Orangenbäumen, eilte die Treppe hinauf und öff nete die Tür.
Valentine, deren Augen zum Himmel gerichtet waren, hatte ihn nicht gesehen. Morrel durchschritt das Vorzimmer und fand das Geländer der Treppe; Teppiche dämpften seinen Schritt; übrigens war er so erregt, daß ihn selbst der Anblick Villeforts nicht erschreckt hätte. Wäre Valentines Vater ihm gegenübergetreten, war er entschlossen, ihm alles zu gestehen und ihn zu bitten, diese Liebe zu entschuldigen und zu billigen. Zum Glück sah er niemand.
Er kam ohne Zwischenfall oben an. Ein Schluchzen, das er vernahm, zeigte ihm den Weg, den er einzuschlagen hatte. Durch eine angelehnte Tür fi el Licht, und von daher kam der Ton der Stimme.
Er stieß diese Tür auf und trat ein.
Im Hintergrund eines Alkovens, unter einem weißen Tuch, das die Form des Körpers abzeichnete, lag die Tote, die für Morrel, der um das Geheimnis wußte, etwas Schreckliches hatte. Neben dem Bett kniete Valentine vor einem großen Lehnstuhl; ihr Kopf ruhte auf den Kissen zwischen den gefalteten Händen, und ein Schluchzen ließ ihre Gestalt erbeben.
Sie hatte das Fenster verlassen, das off en geblieben war, und betete laut, in Tönen, die das unempfi ndlichste Herz gerührt hätten; die Worte kamen schnell, unzusammenhängend, unverständlich aus der vor Schmerz zusammengepreßten Kehle.
Der Mond drang
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