Der Graf von Monte Christo 2
sagte Morrel, »ich soll warten.«
»Ja.«
»Aber jeder Verzug wird unser Verderben sein«, entgegnete der junge Mann. »Valentine allein hat keine Kraft, Widerstand zu leisten, und man wird sie wie ein Kind zwingen. Ich bin heute auf wunderbare Weise zu Ihnen gelangt, kann aber nicht hoff en, daß mir das Glück noch einmal so günstig sein wird. Glauben Sie mir, nur einer der beiden Pläne, die ich Ihnen vorgetragen habe, ist möglich, verzeihen Sie meiner Jugend die Eitelkeit, aber sagen Sie mir, welchen von beiden Sie vorziehen. Erlauben Sie Fräulein Valentine, sich meiner Ehre anzuvertrauen?«
»Nein.«
»Soll ich Herrn von Epinay aufsuchen?«
»Nein.«
»Aber, mein Gott, von wem soll uns denn Hilfe kommen? Vom Zufall etwa?«
»Nein.«
»Von Ihnen?«
»Ja.«
»Sie verstehen, was ich Sie frage? Entschuldigen Sie, aber mein Leben hängt von Ihrer Antwort ab: Von Ihnen soll uns Rettung kommen?«
»Ja.«
»Sind Sie dessen sicher?«
»Ja.«
Es lag in dem Blick, mit dem der Greis bejahte, solch eine Festigkeit, daß an dem Willen, wenn auch an der Macht, nicht zu zweifeln war.
»Oh, ich danke Ihnen! Aber wie können Sie sich der Heirat wi-dersetzen, wenn der Himmel Ihnen nicht die Sprache oder den Gebrauch Ihrer Glieder wiedergibt?«
Ein Lächeln erhellte die Augen des Greises.
»Ich soll also warten?« fragte der junge Mann.
»Ja.«
»Aber der Ehevertrag?«
Und wieder erschien auf dem Gesicht des Greises ein Lächeln.
»Wollen Sie sagen, daß der Vertrag nicht unterzeichnet werden wird?«
»Ja«, gab Noirtier zu verstehen.
Das Versprechen schien trotz der Sicherheit, mit der es gegeben wurde, von seiten eines körperlich ohnmächtigen Greises doch so sonderbar, daß Morrel zögerte, daran zu glauben.
Ob Noirtier nun Morrels Schwanken erkannt hatte oder ob er der Folgsamkeit, die er gezeigt hatte, nicht vollständig Glauben schenkte, genug, er sah den jungen Mann unverwandt an.
»Was wünschen Sie?« fragte Morrel. »Soll ich Ihnen mein Versprechen, nichts zu unternehmen, wiederholen?«
Der Blick des Greises blieb unverwandt und fest, als ob er sagen wollte, daß ihm ein Versprechen nicht genüge, dann sah er vom Gesicht auf die Hand.
»Wünschen Sie, daß ich schwöre?« fragte Maximilian.
»Ja«, gab der Greis zu verstehen.
Morrel begriff , daß Noirtier diesem Schwur eine sehr große Wichtigkeit beilegte; er streckte deshalb die Hand aus und sagte:
»Ich schwöre Ihnen bei meiner Ehre, daß ich abwarten und ohne Ihre Zustimmung nichts gegen Herrn von Epinay unternehmen will.«
»Gut«, lautete die Augensprache des Greises.
»Soll ich mich jetzt entfernen?« fragte Morrel.
»Ja.«
»Ohne Fräulein Valentine wiederzusehen?«
»Ja.«
»Erlauben Sie mir, Sie als Sohn zu umarmen, wie es eben Ihre Tochter getan hat?« fragte Morrel, und da er sich in dem Ausdruck der Augen Noirtiers nicht täuschen konnte, so berührten seine Lippen die Stirn des Greises an derselben Stelle, wo ihn vorher das junge Mädchen geküßt hatte. Dann grüßte er den Greis und ging.
Auf dem Flur erwartete ihn der alte Diener, den Valentine geschickt hatte, und führte ihn durch die Windungen eines fi nsteren Korridors zu einer kleinen Tür, die nach dem Garten hinausging.
Morrel überstieg wieder die Mauer und fand seinen Wagen in dem Schuppen warten.
Er bestieg den Wagen und kehrte, von so vielen Gemütsbewegun-gen erschöpft, aber freieren Herzens, gegen Mitternacht in seine Wohnung zurück.
D P
Frau von Saint-Méran wurde zusammen mit ihrem Gatten, dessen Leiche nach Paris gebracht worden war, in der Familiengruft der Villeforts beigesetzt. Nachdem die Beerdigung vorüber war, wurde Franz von Herrn von Villefort aufgefordert, mit ihm zu kommen. Als sie im Arbeitszimmer des Staatsanwalts angekommen waren, sagte Herr von Villefort zu Franz: »Herr von Epinay, ich muß Ihnen mitteilen, und die Gelegenheit dazu ist vielleicht nicht so schlecht gewählt, wie man im ersten Augenblick glauben könnte, denn Gehorsam ist das erste, was wir den Toten schuldig sind, daß Frau von Saint-Méran vorgestern auf ihrem Totenbett den Wunsch äußerte, daß Valentines Heirat nicht aufgeschoben werden sollte.«
»Herr von Villefort«, entgegnete Franz, »vielleicht ist es nicht der richtige Augenblick für Fräulein Valentine, die ganz in Schmerz versunken ist, an Heirat zu denken; ich muß wirklich fürchten …«
»Valentine«, unterbrach ihn Herr von Villefort, »wird keinen andern
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