Der Graf von Monte Christo 2
sein, daß ich in einer Nacht von Paris nach Tréport reise; ich muß achtmal Pferde zum Wechseln auf dem Weg haben, so daß ich fünfzig Meilen in zehn Stunden schaff e.«
»Eure Exzellenz hatten diesen Wunsch bereits ausgesprochen«, antwortete Bertuccio, »und die Pferde sind bereit. Ich habe sie gekauft und an den bequemsten Plätzen eingestellt, das heißt in Dörfern, wo gewöhnlich niemand haltmacht.«
»Gut«, sagte Monte Christo, »ich bleibe ein oder zwei Tage hier, richten Sie sich darauf ein.«
Als Bertuccio hinausging, um alles Nötige anzuordnen, öff nete Baptistin die Tür; er brachte einen Brief auf einem silbernen Teller.
»Was haben Sie hier zu tun?« fragte der Graf, als er ihn ganz mit Staub bedeckt sah, »ich habe Sie doch nicht herbestellt.«
Baptistin trat, ohne zu antworten, auf den Grafen zu, reichte ihm den Brief und sagte: »Wichtig und dringend.«
Der Graf öff nete den Brief und las:
»Herr von Monte Christo wird hierdurch benachrichtigt, daß diese Nacht jemand in sein Haus in den Champs-Elysées eindringen wird, um sich der Papiere zu bemächtigen, die mutmaßlich in dem Schreibtisch des Ankleidezimmers eingeschlossen sind. Man weiß, daß der Herr Graf tapfer ist, und er wird sicher nicht veranlassen, daß die Polizei einschrei-tet, was andernfalls denjenigen, der diese Mitteilung macht, sehr bloß-
stellen könnte. Der Herr Graf wird sich selbst Gerechtigkeit verschaff en können, indem er sich entweder in dem anstoßenden Schlafzimmer oder in dem Ankleidezimmer selbst versteckt. Viele Leute und in die Augen fallende Vorsichtsmaßregeln würden sicher den Missetäter fernhalten und den Herrn Grafen eine Gelegenheit verfehlen lassen, einen Feind kennenzulernen, den der Schreiber dieses Briefes zufällig entdeckt hat; und wenn dieses erste Unternehmen mißglückte und der Missetäter ein neues ausführen sollte, wäre der Schreiber dieser Zeilen vielleicht nicht in der Lage, seine Warnung zu wiederholen.«
Im ersten Augenblick glaubte der Graf, das Ganze wäre eine Spitzbubenlist; er sollte vor einer kleinen Gefahr gewarnt werden, damit er sich einer größern aussetzte; er wollte deshalb den Brief zur Polizei schicken, aber plötzlich kam ihm der Gedanke, daß es wirklich ein Feind sein könnte, den er allein zu erkennen vermöch-te und den er vielleicht sogar für seine Zwecke verwenden könnte, wie Fiesko den Mohren, der ihn ermorden wollte. Der Graf war ein Charakter voll Kühnheit und Kraft und gewohnt, vor nichts zurückzuschrecken.
Sie wollen mir nicht meine Papiere stehlen, sondern mich töten!
sagte er sich. Es sind keine Diebe, sondern Mörder. Die Polizei soll sich nicht in meine Privatangelegenheiten mischen!
Er rief Baptistin.
»Sie kehren nach Paris zurück und bringen die ganze Dienerschaft hierher zu mir, Baptistin«, sagte er; »ich brauche sie jetzt alle hier.«
»Soll denn niemand im Haus bleiben, Herr Graf?« fragte Baptistin.
»Doch, der Hausmeister.«
»Es ist aber weit von seinem Häuschen bis zum Haus.«
»Nun?«
»Man könnte die ganze Wohnung ausräumen, ohne daß er das geringste Geräusch hörte.«
»Wer könnte das?«
»Einbrecher.«
»Sie sind ein Dummkopf, Baptistin; wenn Räuber die ganze Wohnung ausräumten, würden sie mir nicht so viel Unannehmlichkei-ten bereiten wie eine schlechte Bedienung.«
Baptistin verneigte sich.
»Sie verstehen mich«, fuhr der Graf fort, »Sie bringen die Dienerschaft sämtlich vom ersten bis zum letzten hierher. Alles bleibt aber in seinem gewöhnlichen Zustand; Sie schließen bloß die Läden des Erdgeschosses.«
»Und die des ersten Stocks?«
»Sie wissen doch, daß die nie geschlossen werden. Gehen Sie.«
Der Graf ließ sagen, daß er allein zu Hause speisen und nur von Ali bedient sein wolle.
Er aß wenig, wie gewöhnlich, und nach dem Essen gab er Ali ein Zeichen, ihm zu folgen; er verließ das Haus durch eine kleine Pforte, ging nach dem Bois du Boulogne, als ob er einen Spaziergang machte, schlug dann den Weg nach Paris ein und befand sich bei Einbruch der Dunkelheit vor seinem Hause in den Champs-Elysées. Alles war dunkel, nur in dem Häuschen des Hausmeisters, das etwa vierzig Schritt vom Haus entfernt lag, brannte ein schwaches Licht.
Monte Christo lehnte sich an einen Baum und musterte mit dem Auge, das sich so selten täuschte, die doppelte Allee, die Passanten und die benachbarten Straßen, um zu sehen, ob nicht jemand auf der Lauer stände. Nach zehn Minuten war er überzeugt, daß
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