Der Graf von Monte Christo 2
Präsident läutete. »Ist die Kammer der Meinung, daß diese Untersuchung heute noch stattfi nden soll?«
»Ja«, war die einstimmige Antwort der Versammlung.
Man ernannte eine Kommission von zwölf Mitgliedern, welche die von Morcerf zu liefernden Belege prüfen sollte; die erste Sitzung dieser Kommission wurde auf acht Uhr abends in dem Beratungs-zimmer der Kammer anberaumt.
Der Abend kam, ganz Paris war aufs höchste gespannt. Punkt acht Uhr war die Kommission versammelt. Mit dem achten Schlag trat Graf Morcerf ein; er hatte einige Papiere in der Hand und zeigte eine ruhige Haltung. Gegen seine Gewohnheit war sein Auftreten einfach; er trug den Rock bis oben hinauf zugeknöpft, wie es die Sitte der verabschiedeten Offi ziere ist. Sein Erscheinen machte den besten Eindruck; die Kommission war weit entfernt, übelwollend zu sein, und mehrere Mitglieder traten an den Grafen heran und gaben ihm die Hand.
In diesem Augenblick brachte ein Saaldiener dem Präsidenten einen Brief.
»Sie haben das Wort, Herr Graf von Morcerf«, sagte der Präsident, während er den Brief öff nete.
Der Graf begann seine Verteidigung mit außerordentlicher Beredsamkeit und Geschicklichkeit. Er brachte Belege vor, die bewiesen, daß der Wesir von Janina ihm bis zur letzten Stunde vertraut hatte, da er ihn mit einer Verhandlung über Leben und Tod mit dem Sultan selbst beauftragt hatte. Er zeigte das Abzeichen des Befehlshabers, den Ring, vor, mit dem Ali Pascha gewöhnlich seine Briefe versiegelte und den er ihm gegeben hatte, damit er bei seiner Rückkehr zu jeder Stunde des Tages oder der Nacht zu ihm kommen könne. Leider sei seine Verhandlung erfolglos geblieben, und als er zurückgekehrt sei, um seinen Wohltäter zu verteidigen, sei dieser schon tot gewesen; sterbend aber habe ihm Ali Pascha, so groß sei sein Vertrauen gewesen, seine Lieblingsfrau und seine Tochter anvertraut.
Die Mitglieder der Kommission waren bewegt. Unterdessen warf der Präsident nachlässig einen Blick auf den Brief, den man ihm übergeben hatte; bei den ersten Zeilen aber wurde seine Aufmerksamkeit geweckt; er las den Brief, las ihn nochmals und sah den Grafen von Morcerf an.
»Herr Graf«, sagte er, »Sie haben uns soeben gesagt, daß der Wesir von Janina Ihnen seine Frau und Tochter anvertraut habe?«
»Ja«, antwortete Morcerf, »aber hierbei, wie bei dem ganzen Unternehmen, verfolgte mich das Unglück. Bei meiner Rückkehr waren Vasiliki und ihre Tochter Haidee verschwunden.«
»Kannten Sie sie?«
»Infolge meiner Freundschaft mit dem Pascha und des großen Vertrauens, das er zu meiner Treue hatte, war es mir vergönnt gewesen, sie mehr als zwanzigmal zu sehen.«
»Wissen Sie, was aus ihnen geworden ist?«
»Ich habe gehört, daß sie dem Kummer und vielleicht dem Elend erlegen sind. Ich war nicht reich, lief große Gefahr für mein Leben und konnte zu meinem großen Bedauern keine Nachforschungen nach ihnen anstellen.«
Der Präsident zog unmerklich die Augenbrauen zusammen.
»Meine Herren«, sagte er, »Sie haben die Erklärungen des Herrn Grafen gehört. Herr Graf, können Sie zur Unterstützung Ihrer Angaben irgendeinen Zeugen stellen?«
»Leider nein«, antwortete der Graf, »alle, die den Wesir umgaben und mich an seinem Hof gekannt haben, sind entweder tot oder ver-schollen; ich bin, so glaube ich wenigstens, der einzige von meinen Landsleuten, der diesen schrecklichen Krieg überlebt hat; ich habe nur die Briefe von Ali Tebelin, die ich Ihnen unterbreitet habe; nur den Ring, das Pfand seines Willens, den ich Ihnen hier zeige; endlich den überzeugendsten Beweis, den ich nach einem anonymen Angriff liefern kann: das Fehlen jedes Zeugen gegen mein Wort als ehrlicher Mann und die Makellosigkeit meines Soldatenlebens.«
Ein Murmeln des Beifalls ging durch die Versammlung; da nahm der Präsident das Wort.
»Meine Herren«, sagte er, »und Sie, Herr Graf, ich habe soeben einen Brief erhalten, in dem sich uns ein, wie er versichert, sehr wichtiger Zeuge selbst anbietet. Nach dem, was uns der Graf gesagt hat, zweifeln wir nicht, daß dieser Zeuge die vollständige Unschuld unsres Kollegen beweisen wird. Soll der Brief vorgelesen werden, oder sind Sie der Ansicht, daß wir uns nicht damit aufhalten wollen?«
Morcerf erbleichte und zerknitterte die Papiere, die er in den Händen hielt. Die Kommission entschied sich dafür, den Brief zu verlesen; der Graf enthielt sich jeder Äußerung.
Der Brief lautete:
»Geehrter Herr Präsident!
Ich
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