Der Graf von Monte Christo
Veranlassungen, wo ich ohne diese Vorsichtsmaßregeln mein Leben hätte lassen können, davon Gebrauch gemacht habe.
Ja, es ist wahr; ich erinnere mich, daß Sie mir bereits etwas Ähnliches in Perugia erzählten.
Wirklich? rief der Graf mit einem bewunderungswürdig gespielten Erstaunen; ich entsinne mich dessen nicht. Es ist wahr, ich habe Russen, ohne im geringsten dadurch belästigt zu werden, vegetabilische Substanzen verschlingen sehen, die unfehlbar einen Neapolitaner oder einen Araber umgebracht hätten.
Sie glauben also, der Erfolg sei bei uns noch sicherer, als im Orient, und in unserm nebeligen und regnerischen Klima gewöhne sich ein Mensch leichter an diese stufenweise Einsaugung des Giftes als in der heißen Zone?
Allerdings: doch wohl verstanden, man wird nur gegen das Gift geschützt sein, an das man sich gewöhnt hat?
Ich begreife; und wie würden Sie sich daran gewöhnen oder vielmehr, wie haben Sie sich daran gewöhnt?
Das ist ganz leicht. Nehmen Sie an, Sie wüßten zum voraus, welches Giftes man sich gegen Sie bedienen will, nehmen Sie an, dieses Gift sei ... Brucin zum Beispiel.
Das Brucin zieht man, glaube ich, aus der falschen Angosturarinde, sagte Frau von Villefort.
Ganz richtig, gnädige Frau; aber ich sehe, ich brauche Sie nicht mehr viel zu lehren, und mache Ihnen mein Kompliment; solche Kenntnisse sind selten bei Frauen.
Oh! ich gestehe, erwiderte Frau von Villefort, ich habe die heftigste Leidenschaft für die verborgenen Wissenschaften, die wie Poesie zur Einbildungskraft sprechen und sich wie eine algebraische Gleichung in Ziffern auflösen; ich bitte Sie, fahren Sie fort! Was Sie mir sagen, interessiert mich im höchsten Grade.
Nun wohl, fuhr Monte Christo fort, nehmen Sie an, dieses Gift sei Brucin, und Sie nehmen am ersten Tage ein Milligramm, am zweiten zwei Milligramm, so haben Sie nach Verlauf von zehn Tagen ein Zentigramm, nach Verlauf von weiteren zwanzig Tagen drei Zentigramm, das heißt eine Dosis, die bereits für eine nicht ebenso vorbereitete Person sehr gefährlich wäre. Nach Verlauf eines Monats endlich werden Sie, wenn Sie Wasser aus derselben Flasche trinken, die Person töten, die zugleich mit Ihnen von diesem Wasser getrunken hat, ohne an etwas anderem als an einer leichten Unbehaglichkeit wahrzunehmen, daß irgend eine giftige Substanz mit dem Wasser vermischt gewesen ist.
Sie kennen kein anderes Gegengift?
Ich kenne keines.
Ich habe oft Mithridates' Geschichte gelesen, hielt sie aber stets für eine Fabel, sagte Frau von Villefort nachdenkend.
Nein, es ist ausnahmsweise eine Wahrheit; doch was Sie mich da fragen, gnädige Frau, ist nicht das Resultat einer bloßen Laune, denn Sie richteten bereits vor zwei Jahren ähnliche Fragen an mich, und Sie sagen mir soeben, seit langer Zeit beschäftige Sie Mithridates' Geschichte.
Es ist wahr, die Lieblingsstudien meiner Jugend waren Botanik und Mineralogie, und als ich später erfuhr, die Anwendung einfacher Heilmittel erkläre häufig die ganze Geschichte der Völker und das ganze Leben der Menschen des Orients, so bedauerte ich, daß ich kein Mann bin, um ein Fontana oder ein Cabanis zu werden.
Um so mehr, versetzte Monte Christo, als die Orientalen sich, nicht, wie Mithridates, damit begnügen, sich aus den Giften einen Panzer zu machen, sondern sich auch einen Dolch daraus bilden. Die Wissenschaft wird in ihren Händen nicht allein eine Verteidigungs-, sondern häufig auch eine Angriffswaffe, die eine dient gegen die physischen Leiden, die andere gegen ihre Feinde; mit dem Opium, mit der Belladonna, mit dem Haschisch verschaffen sie sich im Traume das Glück, das ihnen Gott in Wirklichkeit verweigert hat; mit dem Schlangenholz, mit dem Kirschlorbeer schläfern sie die ein, die sie gern stumm machen wollen.
Wirklich! rief Frau von Villefort, deren Augen bei diesem Gespräche von einem seltsamen Feuer erglänzten.
Ei, mein Gott! ja, gnädige Frau, fuhr Monte Christo fort, die geheimen Dramen des Orients entstehen und entwickeln sich so: von der Pflanze, die Liebe erregt, bis zur Pflanze, die den Tod bringt; von dem Tranke, der den Himmel öffnet, bis zu dem, der einen Menschen in die Hölle versenkt; und die Kunst dieser Chemiker versteht es bewundernswert, das Mittel und das Übel den Liebesbedürfnissen und dem Verlangen der Rache anzupassen.
Aber, mein Herr, die orientalische Gesellschaft, in deren Mitte Sie einen Teil Ihres Lebens zugebracht haben, ist also wirklich phantastisch wie die Märchen,
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