Der Graf von Monte Christo
Der Präsident warf die Augen kaum auf den Brief, den man ihm gebracht hatte; doch bei den ersten Zeilen wurde seine Aufmerksamkeit rege, er las das Schreiben, las es abermals, und sagte, seine Blicke auf Herrn von Morcerf heftend: Herr Graf, Sie sagen uns, der Wesir von Janina habe Ihnen seine Frau und seine Tochter anvertraut? – Ja, mein Herr, antwortete Morcerf; doch hierin, wie im übrigen, verfolgte mich das Unglück. Bei meiner Rückkehr waren Wasiliki und ihre Tochter Haydee verschwunden. – Sie kennen die beiden? – Mein vertrauter Umgang mit dem Pascha und der feste Glaube, den er zu meiner Treue hatte, erlaubten mir, sie mehr als zwanzigmal zu sehen. – Haben Sie irgend eine Ahnung, was aus ihnen geworden ist? – Ja, mein Herr, ich habe sagen hören, sie seien ihrem Kummer und vielleicht ihrer Armut unterlegen. Ich war nicht reich, ich sah mein Leben großen Gefahren preisgegeben und konnte zu meinem Bedauern keine Nachforschungen anstellen.
Der Präsident runzelte unmerklich die Stirn und sagte: Meine Herren, Sie haben den Herrn Grafen gehört. Herr Graf, können Sie zur Unterstützung Ihrer Angaben einige Zeugen liefern? – Nein, antwortete der Graf, alle die, welche den Wesir umgaben und mich an seinem Hofe kannten, sind tot oder zerstreut; soviel ich weiß, habe ich diesen furchtbaren Krieg allein überlebt. Ich besitze nur die Briefe von Ali Tependelini, die vor Ihren Augen liegen; ich besitze nur den Ring, das Pfand seines Willens, das Sie hier sehen; ich habe endlich den überzeugendsten Beweis, den ich liefern kann, nämlich die Anonymität des Angriffs, den Mangel jedes Zeugen gegenüber meinem Wort als dem eines ehrlichen Mannes und gegenüber der Unbeflecktheit meines militärischen Lebens.
Ein Gemurmel des Beifalls durchlief die ganze Versammlung; Albert, wäre nichts Neues dazwischen getreten, so hätte Ihr Vater die Sache gewonnen gehabt. Da nahm der Präsident das Wort und sagte: Meine Herren und Sie, Herr Graf, ich denke, es wird Ihnen nicht unangenehm sein, einen sehr wichtigen Zeugen zu hören, der sich von selbst einfindet; dieser Zeuge, wir zweifeln nicht daran, ist nach allem, was uns der Graf gesagt hat, berufen, die vollkommene Unschuld unseres Kollegen darzutun. Hier ist ein Brief, den ich soeben empfangen habe; soll er verlesen werden, oder entscheiden Sie, daß wir darüber weggehen und uns bei diesem Zwischenfalle nicht aufhalten?
Herr von Morcerf erbleichte und preßte krampfhaft die Papiere zusammen, die er in der Hand hielt. Die Kommission entschied sich für die Verlesung. Der Brief lautete:
Herr Präsident,
Ich kann der Untersuchungskommission, die mit der Prüfung des Benehmens des Herrn Grafen von Morcerf in Epirus und Macedonien beauftragt ist, die bestimmteste und sicherste Auskunft geben.
Ich war beim Tode Ali Paschas an Ort und Stelle; ich wohnte seinen letzten Augenblicken bei; ich weiß, was aus Wasiliki und Haydee geworden ist; ich stelle mich zur Verfügung der Kommission und fordere sogar die Ehre, gehört zu werden. Ich werde in dem Augenblick, wo man Ihnen dieses Billett übergibt, im Vorsaale der Kammer sein.
Und wer ist dieser Zeuge oder vielmehr dieser Feind? fragte der Graf mit einer Stimme, in der eine tiefe Erschütterung nicht zu verkennen war. – Wir werden es erfahren, antwortete der Präsident. Ist die Kommission der Ansicht, daß der Zeuge gehört werden soll? – Ja! ja! sprachen gleichzeitig alle Stimmen. Man rief den Saaldiener, und der Präsident fragte ihn, ob jemand im Vorsaale warte. – Ja, Herr Präsident, erwiderte der Diener, eine Frau, begleitet von einem Diener. – Alle schauten sich an. Lassen Sie die Frau eintreten, sagte der Präsident.
Fünf Minuten nachher erschien der Diener wieder. Aller Augen waren auf die Tür gerichtet, und ich selbst, sagte Beauchamp, teilte die allgemeine Spannung. Hinter dem Diener ging eine Frau, in einen großen Schleier gehüllt, der sie völlig verbarg.
Der Präsident bat die Unbekannte, den Schleier zurückzuschlagen, und nun sah man, daß die Frau griechische Kleidung trug, und daß sie jung und außerordentlich schön war.
Ah! rief Morcerf, Haydee!
Wer hat Ihnen das gesagt?
Ach! ich errate es. Doch fahren sie fort, Beauchamp, ich bitte Sie, Sie sehen, ich bin ruhig und stark.
Herr von Morcerf, fuhr Beauchamp fort, schaute diese Frau mit einer Mischung von Angst und Erstaunen an. Für ihn sollte Leben oder Tod aus diesem reizenden Munde kommen.
Der Präsident bot der jungen
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