Der Graf von Sainte-Hermine - Dumas, A: Graf von Sainte-Hermine - Le Chevalier de Sainte-Hermine
Ihnen unser Führer vorhin geantwortet?«, fragte Hélène.
»Jedem anderen als Ihnen würde ich sagen, er hätte behauptet, der Wald sei wildreich und wir müssten uns keine Sorgen ob unserer Verpflegung bis zum Land des Betels machen. Doch da Sie eine tapfere Reisegefährtin sind, will ich Ihnen die Wahrheit sagen, und die lautet, dass er uns empfiehlt, nachts kein Auge zuzumachen, es sei denn, verlässliche Augen wachten über uns. Sie können dennoch ruhig schlafen, denn ich werde über Sie wachen.«
Seit sie in dem Wald weilten, war ihnen, als wären sie in einer Kirche; die Reisenden senkten die Stimme, als fürchteten sie, belauscht zu werden. Das Tageslicht war entschwunden, als wäre es bereits sechs Uhr abends, der Blätterhimmel der Bäume war so dicht, dass kein Vogelgezwitscher zu vernehmen war, und man hätte meinen können, die Nacht bräche herein, allerdings ohne die gewohnten Geräusche der Tiere, die erwachen, wenn der Tag endet, und deren Sonnenschein die Finsternis ist, denn im Dunkeln lieben sie, fressen sie und trinken sie, tagsüber aber schlafen sie.
Wahrhaftig furchterregend war die Gewalt dieser Natur, wo ein Sturm eine Sandwüste zu einem Ozean aufwühlt, wo ein einziger Baum einen ganzen Wald ausmacht und wo in den finstersten Tiefen des Waldes, in die gewiss nie ein Lichtstrahl dringt, Blüten in schillerndsten Farben und betörende Düfte anzutreffen sind, indes andere Pflanzen, die im Schatten darben und nur in der Sonne gedeihen, dem Licht entgegenstreben, sich an jedem erstbesten Zweig festhalten, weiterklettern, den Baumwipfel
erreichen und dort ihre Blüten öffnen, als wären es in Smaragd eingefasste Rubine oder Saphire; auf den ersten Blick könnte man sie für die Blüten der riesigen Bäume halten, so groß und mächtig wirken sie, doch wenn man ihren Stamm sucht, sieht man eine schmächtige Liane, so dünn wie eine Drachenschnur. In diesen Urwäldern ist alles geheimnisumwoben, doch diese Aura des Geheimnisvollen führt zur schwermütigsten aller Vorstellungen, der des Todes.
Denn der Tod ist dort allgegenwärtig. In jenem Gebüsch lauert der Tiger, auf jenem Ast kauert der Panther. Der weiche, gewundene Stengel, der aussieht wie ein sechs oder acht Fuß über dem Boden gekappter Baum, ist der Kopf einer Schlange mit zusammengerolltem Körper, die ihr Opfer über eine Entfernung von fünfzehn bis zwanzig Fuß erreicht, wenn sie losschnellt. Jener See dort, so ungetrübt wie ein großer Spiegel, beherbergt neben den uns bekannten tödlichen Bewohnern, den Kaimanen, Krokodilen und Alligatoren, auch den riesigen Kraken , den noch kein Fischer vom Grund des Sees an die Oberfläche zu ziehen vermochte und der ein Pferd samt Reiter verschlingen kann, wenn er das Maul aufreißt. Denn wir befinden uns nunmehr in Indien, in dem fruchtbarsten und tödlichsten Teil unseres Universums.
All diese Überlegungen stellte René an, während er unter dem stummen und dunklen Blätterdach voranschritt, das hin und wieder ein schwacher Sonnenstrahl mühsam durchdrang. Mit einem Mal gelangte man aus dem trübsten Dämmerlicht in die strahlendste Helligkeit, als höbe sich ein Vorhang: Die Reisenden waren in Sichtweite des Sees angekommen; um ihn zu erreichen, mussten sie eine Blumenwiese überqueren, wie man sie nur aus Träumen kennt – ein wahres Stück Paradies, das auf die Erde gefallen war. Dichte Blumenhecken, von keinem Botaniker je klassifiziert, verströmten einen so überwältigenden Duft, dass begreifbar wurde, dass man daran sterben konnte. Die Vögel erinnerten an Fabelwesen mit ihren unerhörten Schreien, ihrem smaragdgrünen, rubinroten und saphirblauen Gefieder, und am Horizont erstreckte sich der See wie ein azurblauer Teppich.
Ein Ausruf des Wohlbehagens entrang sich allen Reisenden, als sie nach dem finsteren Wald diese friedvolle Wiese und den prachtvollen See erblickten; die Brust weitete sich, man konnte wieder frei atmen.
Man überquerte die Wiese; schlängelnde Bewegungen im Gras verrieten, dass man Reptilien aufgescheucht hatte. Der Führer, immer auf der Hut, erschlug mit seinem Stock eine kleine Schlange von kaum einem Fuß
Länge und mit einem Muster aus gelben und schwarzen Vierecken, deren Biss tödlich ist und die in birmanischer Sprache Schachbrettschlange heißt.
Der Führer erklärte den Reisenden eine Besonderheit des Bisses dieser Giftschlange: die nämlich, dass das Opfer unabhängig von der Tageszeit des Bisses entweder abends bei Sonnenuntergang oder
Weitere Kostenlose Bücher