Der Greif
haben soll.«
»Zur Zeit gibt es nur noch zwei, die von Bedeutung sind: meinen Bruder sowie einen älteren Theoderich, einen
entfernten Vetter unseres Vaters Thiudamer. Er ist beinahe so alt, wie dieser jetzt wäre. Dieser ältere Theoderich hat sich den prahlerischen römischen Titel Triarius zugelegt, was ›der Erfahrenste aller Krieger‹ bedeutet.«
Ich versuchte, mir den Bericht des alten Wyrd genauer in Erinnerung zu rufen. »Handelt es sich dabei um den
Theoderich, der noch einen weiteren römischen Beinamen trägt? Und zwar einen ziemlich lächerlichen und
verächtlichen?«
»Ja, Strabo, das ist er. Theoderich, der Schielende.«
»Und was ist mit ihm?«
»Viele Menschen unseres Volkes betrachten ihn als ihren König, denn wie mein Vater und mein Onkel stammt auch er von der amalischen Linie ab. Die ostgotische Nation war bereits vor dem Tod Walamers und Thiudamers in zwei
Lager geteilt. Ein Teil des Volkes hielt meinem Vater und seinem Bruder die Treue, und der andere stand auf der
Seite dieses Vetters. Strabo hat zudem noch ein paar
getreue Verbündete: die Skiren von König Edika, denen
mein Vater kurz vor seinem Tod eine Niederlage zufügte, sowie die Sarmaten König Babais, der jetzt von dir und meinem Bruder getötet wurde. Nun, die Skiren und die
Sarmaten mögen im Auenblick vielleicht keine allzu starken Verbündeten sein. Dennoch, als mein Onkel und mein Vater kurz nacheinander starben, erklärte sich Theoderich Strabo zum alleinigen König aller Goten, also nicht nur der Ostgoten der amalischen Linie, sondern auch der Westgoten der
balthischen Linie, die sich schon vor langer Zeit sehr weit westlich von hier niedergelassen haben und möglicherweise gar nichts von ihm wissen.«
»Das Gehirn dieses Mannes muß ebenso verdreht sein
wie seine Augäpfel. Jemand, der sich einfach willkürlich zum König irgendeiner Nation erklärt, wird dadurch schließlich noch lange nicht zu ihrem wirklichen König.«
»Nein; und die meisten der Ostgoten, die früher meinem Vater die Treue hielten, haben meinen Bruder auch als
dessen rechtmäßigen Nachfolger anerkannt.«
»Nur die meisten? Warum nicht alle? Unser Theoderich
kämpft um das Land, um die Lebensgrundlage und um die
Rechte aller Ostgoten. Bemüht sich der schielende
Theoderich etwa um irgendeines dieser Ziele?«
»Möglicherweise muß er das gar nicht, Thorn. Vielleicht werden ihm diese Dinge von Kaiser Leo oder von Kaiser
Julius Nepos freiwillig zugestanden.«
»Das verstehe ich nicht.«
»Wie ich bereits sagte, sind hier sehr unterschiedliche Interessen im Spiel. Das römische Reich fürchtet und haßt schon seit undenklichen Zeiten alle germanischen Stämme und tut, was es nur kann, um Feindseligkeiten zwischen ihnen zu schüren, denn solange sie sich gegenseitig
bekriegen, können sie nicht in das Reich einfallen. Seit der Katholizismus zur Einheitsreligion des römischen Reiches wurde und die germanischen Völker den arischen Glauben angenommen haben, bedient sich das Reich noch viel
häufiger dieser Taktik.« Sie zuckte die schmalen Schultern und runzelte ihre zarten hellen Augenbrauen. »Ach, als die Hunnen auf dem ganzen Erdball wüteten, war man in Rom
und Konstantinopel glücklich darüber, die germanischen Stämme zu seinen Verbündeten zählen zu können, aber
nachdem Attila tot war und die wilden Hunnen sich in alle Winde zerstreut hatten, nahmen die Kaiser des Ostens wie des Westens ihre alte Politik wieder auf und spielten die germanischen Stämme gegeneinander aus, um sie von den
Grenzen des Reiches abzulenken.«
»Warum sollte dann einer der Kaiser dem einen
Theoderich freiwillig Zugeständnisse machen und dem
anderen nicht?«
»Keiner von ihnen wird jemals einen Theoderich wirklich begünstigen, jedenfalls nicht für lange. Da sich Theoderich Strabo jedoch zum König der Ost- und Westgoten erklärt hat, ist es für das Reich im Augenblick von Vorteil, ihn als den König aller Goten anzuerkennen. Das Reich verhandelt mit Strabo und kann so wenigstens so tun, als verhandle es mit allen Goten Europas sowie mit deren germanischen oder sonstigen Verbündeten.«
Es war für mich etwas äußerst Ungewöhnliches, eine Frau über Politik sprechen zu hören, die zudem noch genau zu wissen schien, wovon sie sprach. Ich versuchte also, meine nächste Frage weder skeptisch noch gönnerhaft klingen zu lassen: »Ist das deine ganz persönliche Einschätzung,
Amalamena, oder gibst du die Ansicht vieler Goten
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