Der Greif
Fluß, der wie die Gebirgsbäche vollständig mit Eis bedeckt war. Dort, wo der Birsus in den Rhein mündet, sahen wir vor uns die Stadt Basilia liegen. Von weitem schon erblickten wir die Mauern des Kastells hoch über der Flußmündung.
Weil sich der gesamte Verkehr und Handel auf der
Wasserstraße des Rheins abspielt, führen nur zwei enge, schlechtgepflasterte Straßen nach Basilia hinein, und eine davon benützten Wyrd und ich. Ich hatte schon damit
gerechnet, daß die Straße nicht sehr belebt sein würde, aber zu meinem Erstaunen hatten wir die Straße sogar ganz für uns. Weit und breit waren weder Karren noch Wagen, noch Reiter, noch Fußgänger zu sehen, nirgends eine Spur
menschlichen Treibens. Wyrd schüttelte immer wieder
verwundert den Kopf. Auch am Stadtrand sahen wir keinen Menschen, niemanden, der arbeitete, umherging oder
einfach nur dasaß. Die Fenster und Türen der Häuser, an denen wir vorbeikamen, waren geschlossen und verriegelt, kein Schmiedefeuer oder Brennofen brannte, und kein
Geräusch ließ erkennen, daß hier jemand lebte. Wir hörten nicht einmal einen Hund bellen.
»Beim gebackenen Leib des heiligen Polykarp«, knurrte
Wyrd, »das ist höchst seltsam.«
»Aber seht da oben, Fräuja«, sagte ich. »Zumindest steigt Rauch von den Dächern auf.«
»Ja. Komm, Junge, ich zeige dir eine Taverne, die ich sehr gern aufsuche. Sie gehört einem alten Freund von mir, der seinen Wein nicht panscht. Von ihm werden wir erfahren, ob Basilia von der Pest heimgesucht wird.«
Als wir aber vor der Taverne standen, mußten wir
feststellen, daß auch ihre Tür verschlossen war. Nur der Rauch, der zum Himmel aufstieg, ließ auf ein Herdfeuer im Innern des Hauses schließen. Wyrd hämmerte zornig gegen die Tür, gab einige schreckliche Obszönitäten von sich und rief: »Dylas, mach sofort auf! Verflucht seist du von allen Göttern, ich weiß, daß du da drin bist!«
Erst nach einiger Zeit tat sich ein Fenster einen Spalt breit auf. Ein trübes, rotgerändertes Auge erschien, und jemand fragte mit schroffer Stimme auf Gotisch und wie Wyrd mit einem Akzent, den ich nicht kannte: »Wyrd, alter Freund, bist du es?«
»Nein, ich bin der schlanke Knabe Hyazinthus,
gekommen, um dich zu verführen«, brüllte Wyrd so laut, daß noch mehr Fenster benachbarter Häuser ebenfalls einen
Spalt breit aufgingen. »Schiebe den Riegel zurück, oder, bei Jesus, ich trete die Tür ein!«
»Ich kann dir nicht öffnen, Freund Wyrd«, sagte das Auge am Fenster. »Ich darf keinem Fremden öffnen.«
»Was? Keinem Fremden öffnen? Bei den Knochen des
Hiob, du und ich, wir haben doch alle Seuchen überlebt, die es überhaupt gibt. Wir stecken weder uns noch sonst
jemanden an. Außerdem bin ich kein Fremder! Ich sage
nochmals, wenn du nicht aufmachst...«
»Du alter Schafskopf, sei wenigstens einmal in deinem
Leben still und höre mir zu. Ich darf auf Befehl des Legaten Calidius niemanden hereinlassen. Auch die anderen
Einwohner der Stadt dürfen das nicht. Wir wurden von keiner geringeren Plage heimgesucht als den Hunnen.«
»Jesus! Verbarrikadiert Calidius den Stall erst, nachdem die Pferde gestohlen wurden?«
»Du sprichst wahrer, als du glaubst, Freund. Diesmal
wurden allerdings eine ungewöhnliche Stute und ihr Fohlen gestohlen.«
»Beim Höllenfürsten Pluto!« brüllte Wyrd. »Laß mich rein und erzähle mir mehr!«
»Über das, was hier geschah, darf ich nicht sprechen, und auch kein anderer Bürger dieser Stadt. Fremde und
Besucher müssen sich in der Garnison melden. Nur dort
wird euch vielleicht die Tür geöffnet.«
»Dylas, du Unglücksvogel, was geht hier vor? Es gibt hier doch gar nicht so viele Hunnen, daß sie eine römische
Garnison angreifen könnten!«
»Ich kann dir nicht mehr sagen, alter Freund. Geh zur
Garnison.«
Also machten wir uns auf den Weg zur Garnison. Wyrd
fluchte die ganze Zeit vor sich hin, ich sagte nichts. Das Kastell von Basilia war zwar vergleichsweise klein, doch damals riß ich vor Staunen die Augen auf. Die Mauer vor uns maß von einer Ecke zur anderen vierhundert Schritt.
Obwohl zweifellos aus Stein errichtet, war sie mit dicken Torfballen verkleidet, um sie vor dem Angriff eines
Rammbocks zu schützen. Über dem großen Holztor hing ein Schild mit einer mehrfarbigen Inschrift: Der Name Kaiser Valentinians, der die Festung in längst vergangenen Zeiten erbaut hatte, war in Gold zu lesen, der Name der Legion, zu der die Garnison gehörte, der Legio XI
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