Der Greifenmagier 2 - Land des Feuers
denkbarerweise sonst zeugen sollen?
Gerent verließ ihr Haus eine ganze Weile vor Sonnenaufgang. Fareine weckte zuvor Tehre, worum diese gebeten hatte. Tehre zog sich rasch das schlichte Kleid an, das sie bereitgelegt hatte, steckte das Haar hoch und lief zur Haupttür hinab, um Gerent richtig zu verabschieden. Er hatte gesagt: Ich möchte lieber aus einem befreundeten Haus heraustreten, wenn ich Breidechboda verlasse. Das war ihm wichtig gewesen. Deshalb war er hergekommen. Um ihr vom Magier des Königs zu berichten und ihr zuzureden, dass sie ihrem Vater schrieb ... Natürlich. Aber auch, weil es ihm wichtig gewesen war, das Haus einer Freundin im Rücken zu haben, wenn er die Stadt verließ. Er hatte offenkundig keine Familie – oder zumindest keine, an die er sich wenden konnte. Tehre hatte festgestellt, welch intensives Mitleid sie empfand, wenn sie daran dachte, dass Gerent von der eigenen Familie im Stich gelassen worden war. Egal, was er getan hatte. Und egal, was sie selbst vielleicht tat – sie wusste, dass ihre Familie nie die Tür vor ihr zuschlüge.
Also erwartete sie Gerent an der Tür, um ihm Lebewohl zu sagen, wie es eine Freundin tat. Er zeigte sich überrascht und, wie sie glaubte, richtig bewegt. Tehre wünschte ihm Glück und gutes Wetter, wie sie es jedem Freund gewünscht hätte, der ihr Haus verließ und sich auf den Weg machte.
Der große Mann legte den Kopf schief und betrachtete sie mit hochgezogener Augenbraue. »Es tut mir leid, dass ich keine Gelegenheit gefunden habe, dir eine ganze Reihe von Katapulten zu bauen.«
So ging es Tehre auch. Sie nickte wehmütig. »Ich zerbreche also andere Dinge, vermute ich«, erwiderte sie, und er lachte leise, obwohl sie gar nicht vorgehabt hatte, etwas Komisches zu sagen. Es störte sie aber auch nicht. Gerent lachte auf eine Art über sie, die wie eine Aufforderung klang mitzulachen.
»Tu das«, ermunterte er sie. »Danke, Tehre. Fareine.« Er nickte ihnen mit einer Miene zu, die ausdrückte, dass er es bedauerte zu gehen. Und dann drehte er sich um und schritt zur Tür hinaus.
»Beguchren Teshrichten«, sagte Tehre nachdenklich und blickte auf die fahl beleuchtete Straße hinaus, nachdem Gerent gegangen war. »Und ›Probleme‹ im Norden.«
»Tehre?«
»Nichts. Ich frage mich nur ... Nichts, Fareine.« Tehre schloss die Tür vor dem matten perlmuttfarbenen Zodiakallicht, das dem Sonnenaufgang vorausging, und kehrte in ihr Zimmer zurück, um sich richtig anzuziehen.
Der Palast des Arobarn war eine Übung in der Kunst des Baumeisters: verziert bis fast an die Grenze des Absurden, wenn es sie auch nicht gänzlich überschritt. Als Kind hatte Tehre die schiere Extravaganz geliebt; sogar heute noch liebte sie die Turmspitzen und Statuen, die die Dachkanten säumten – besonders auf den niedrigeren Mauern natürlich. Heute wusste sie, was ihr als Kind noch unbekannt gewesen war: dass nämlich die höheren Wände genug eigenes Gewicht aufwiesen und somit nicht das Zusatzgewicht von Statuen benötigten, das ihnen Stabilität gegen den seitlichen Druck der schrägen Dächer verlieh. Die Statuen besaßen jedoch eine ganz eigene Schönheit, und den Bildhauern hatte es zweifellos Freude bereitet, sie anzufertigen.
Tehres Kutsche kam an einer langen Kolonnade vorbei, wo die sonst schlichten Säulen in Violett und Karminrot gestrichen waren – außer wo man sie vergoldet hatte –, und durchquerte ein Marmortor, das von einem kurzen, dicken Türsturz gekrönt war. Ein solcher gerader Sturz aus Stein war natürlich nicht strukturell stabil. Dieser war bereits rissig, wie man es gleich hätte erwarten können: zweimal symmetrisch an der oberen Fläche und einmal mittig an der unteren, wodurch er sich in einen viel stabileren Bogen mit quasi drei Scharnieren verwandelt hatte.
Tehre hätte schlicht vorgeschlagen, von Anfang an einen Torbogen zu errichten, aber es war interessant, sich zu überlegen, wie der Stein auf die Belastungen reagiert hatte, die er inakzeptabel fand. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür, warum man die Zugspannungen und Stützlinien bedenken musste, die auf jeden Punkt innerhalb einer Konstruktion einwirkten; es war kaum ein Zufall, dass der gerade Türsturz an exakt diesen drei Stellen Risse bekommen hatte: Es waren natürlich die Scharnierpunkte des »Bogenrings«. Es müsste doch eine Möglichkeit geben, die Beziehung der Zugbelastungen und der aus ihnen resultierenden Stützlinien zur Dicke der beim Bau verwendeten Steine
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