Der Grenzgänger
Knabe.
Am Templergraben ließ mich der Kommissar aussteigen. „Morgen um zehn Uhr hole ich Sie ab, wenn’s recht ist.“
Mir sollte es recht sein. Nachdenklich ging ich in meine Wohnung und rief in der Kanzlei an. Sabine war mit Dieter unterwegs, sie würde spät abends nach Hause kommen, teilte mir eine einsame Sekretärin mit. Ob Sabine damit meine Wohnung gemeint hatte oder ihr Apartment am Adalbertsteinweg, wusste die ahnungslose Frau nicht.
Erschöpft setzte ich mich in einen Sessel. Ich hatte mir einen Block genommen und machte mir Notizen über die bisherigen Geschehnisse. Die Geschichte blieb für mich ein Buch mit sieben Siegeln. Grübelnd legte ich das Papier beiseite und griff nach der Visitenkarte von Christian Maria Wagner.
Eine Frage fiel mir ein, die ich ihm unbedingt stellen musste. Ich erinnerte mich an sein Angebot, er würde uns jederzeit zur Verfügung stehen, und angelte nach dem Telefon. Lange musste ich warten, bis mein Anruf angenommen wurde.
Wagner schien in keiner Weise verwundert oder ungehalten, dass ich ihn sprechen wollte. „Wenn es der Aufklärung dient, gerne“, sagte er überaus freundlich.
„Frau Doktor Leder hat mir gesagt, dass Renatus Fleischmann bereits an einem neuen Roman gearbeitet hat. Er wollte ihr das Manuskript vor knapp einer Woche zugeschickt haben. Wissen Sie etwas davon?“
„Dazu kann ich Ihnen nichts sagen, Herr Grundler.“ Der Verleger bedauerte, mir nicht helfen zu können. „Davon weiß ich wirklich nichts.“ Üblicherweise würde die Lektorin zunächst die Manuskripte lesen und sondieren und ihm danach ihre Empfehlungen in einem Gutachten vorlegen. „Ich kann nicht jedes Machwerk lesen, das von Autoren oder Agenten vollmundig angepriesen wird.“ Auch die Manuskripte, die im Verlag ankämen, würden ungelesen an die Lektorin weitergereicht. „Fleischmann kannte unsere Vorgehensweise, er hat seine Werke stets direkt an Frau Doktor Leder geschickt.“ Wagner verabschiedete sich mit einer Wiederholung. „Von einem neuen Werk weiß ich nichts.“
Er würde es ohnehin nicht mehr veröffentlichen, dachte ich mir in Erinnerung an unser Gespräch, insofern war meine Frage eigentlich überflüssig gewesen. Beim Blick aus dem Fenster auf den Templergraben fiel mir wieder ein roter Golf auf, der vor dem Haus geparkt war. Ich überlegte, ob dies etwas zu bedeuten hatte, bremste dann aber meine Fantasie. Rote Golfs gab es zuhauf. Was früher ein Käfer oder eine Ente war, war heutzutage der Golf, eine preiswerte Fahrmöglichkeit für Studenten.
Glückspilz
Der nächste Tag begann nicht gerade verheißungsvoll. „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“, tröstete mich Böhnke, als er mich morgens telefonisch geweckt hatte. Schon früh hatte er mich zu Hause angerufen und sich entschuldigt. „Wir können heute noch nicht nach Huppenbroich fahren, sondern erst morgen.“ Er müsse einen dringenden Arztbesuch erledigen, an den er gestern nicht gedacht hatte. „Eine Routinesache, aber dringend von meiner Behörde vorgeschrieben“, beteuerte er, „der Termin steht seit Monaten fest.“
Meine leichten Zweifel an dieser Erklärung unterdrückte ich, wenngleich es ungewöhnlich war, dass ausgerechnet Böhnke einen Termin vergessen haben sollte. Nachdenklich sah ich aus dem Fenster hinaus auf den Templergraben, wo gerade die ersten Studenten zum Hauptgebäude der TH liefen, während ich mir Böhnkes Entschuldigung anhörte. Was sollte ich bloß mit dem Tag anfangen? Ich hatte mich sehr auf die arbeitsintensive Zweisamkeit mit dem Kommissar in der Abgeschiedenheit von Huppenbroich gefreut und verspürte keinerlei Lust, mein Tagesprogramm umzustellen und stattdessen in die Kanzlei zu wandern. Endlich kam mir die Idee.
„Würde es Ihnen unangemessene Umstände bereiten, mir den Schlüssel von Fleischmanns Wohnung zu überlassen?“, fragte ich ihn mit der gebotenen Bescheidenheit. „Warum?“ Die Zurückhaltung war in der schnellen, barschen Antwort des Kommissars unüberhörbar.
Ich wolle mich dort noch einmal in aller Ruhe umsehen, erklärte ich. „Ich möchte mich in seine Lage versetzen, seine Atmosphäre schnuppern.“ Möglicherweise fand ich sogar neue Hinweise, die uns bei der Aufklärung des Mordes behilflich sein konnten. „Und ich könnte vielleicht Ihren Maulwurf enttarnen“, köderte ich ihn.
Gespannt wartete ich auf Böhnkes Entgegnung. Meine von ihm erbetene Vorgehensweise war gewiss hart am Rande der Legalität. Ich
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