Der Grenzgänger
gesprochen, Fleischmann hätte sich in die Stille und Einsamkeit zurückgezogen und würde dort an einem neuen Manuskript arbeiten, das er ihr zuschicken wollte. Wie ich aus Fleischmanns akkurat abgehefteten Unterlagen erkannt hatte, befand sich auf seiner Inventarliste alles Mögliche, nur zwei Dinge gab es nicht. Fleischmann besaß offenbar weder ein Mobiltelefon noch einen Laptop. Nach meiner Überlegung konnte dies bedeuten, dass Fleischmann irgendwo sein neuestes Manuskript im wahrsten Sinne des Wortes mit der Hand geschrieben und es anschließend auf den Computer übertragen haben musste.
Wenn es denn überhaupt das behauptete Manuskript gab, wie ich einräumen musste. Warum sollte sich Fleischmann in diesem Falle anders verhalten haben als zuvor, als er immer gewissenhaft und pünktlich seine Vorgaben eingehalten hatte? Ich ärgerte mich darüber, dass ich mir Fragen stellte, auf die ich mir keine Antworten geben konnte.
Mit der Maus spielte ich kreuz und quer über die Oberfläche des Bildschirms. Es gab nichts für mich zu tun, sodass ich mich einem Computerspiel widmete. Die Befehlskette war nicht anders als auf meinem eigenen Computer: Programme, Zubehör, Spiele, FreeCell.
Doch ich verlor schon nach kurzer Zeit die Lust an dem Kombinationsspiel mit den Karten und wanderte zurück auf die Oberfläche.
Plötzlich stutzte ich, als ich im Programm auf eine Funktion stieß, die ich in meinem eigenen nicht kannte, wahrscheinlich, weil ich sie in meiner Einfältigkeit noch gar nicht aufgefunden hatte. Neugierig ging ich den neuen Pfad weiter, der sich vor mir auftat, und stand schließlich vor einer elektronischen Sperre. Der Computer verlangte von mir ein Passwort. Nachdenklich rieb ich mir über den Mund. ,Welches Wort würdest du nehmen, wenn du Fleischmann wärst?’, fragte ich mich. Akkurat, pünktlich, ordentlich, penibel, genau, so war Fleischmann von den Menschen charakterisiert worden, die mit ihm zu tun hatten. Vermutlich trafen diese Eigenschaften auch auf die Wahl eines Passwortes zu.
Ich gab die verschiedenen Worte ein, die mir in den Sinn kamen. „Renatus“, „Fleischmann“, „Computer“, sogar „Passwort“ versuchte ich als Passwort. Doch wurde mein Zugang zu der verschlossenen Datei nicht akzeptiert. Bei „Wagner“, „Renate“, „Leder“, „Bücher“ oder „Krimis“ war es nicht anders. Ich zog mich nach vielen vergeblichen Bemühungen verärgert in eine erneute Denkphase zurück. Wie konnte nur das verflixte Passwort lauten?
Ein neuer Hoffnungsschimmer keimte in mir, nachdem ich noch einmal Fleischmanns Romane zur Hand genommen hatte. ,Eigentlich’, so dachte ich mir, während ich die Buchstaben auf der Tastatur antippte, ,kann es sich nur um den Namen eines der Ganoven handeln, die immer den Hals aus der Schlinge ziehen.’ Der Name des ominösen Stadtdirektors brachte mir keinen Erfolg, beim Namen des geheimnisvollen Bürgermeisters flackerte der Bildschirm kurz auf und brachte mir ein neues Bild.
„Bingo!“, sagte ich laut in den kahlen Raum hinein und klopfte mir symbolisch auf die Schulter. Ich war erfolgreich gewesen und bekam Zugang zu einer bislang unbekannten Datei.
Aber ich bekam nicht nur Zugang zu einer unbekannten Datei, sondern ich betrat eine vollkommen neue Welt. Endlich fand ich alle Manuskripte Fleischmanns.
Die sechs veröffentlichten Romane waren aufgrund der Titel leicht zu identifizieren. Dann allerdings wurde es unübersichtlich in dem alphabetischen Verzeichnis.
Die Datei „Korrespondenz“ schien eindeutig. Als ich sie öffnete, fand ich den kompletten Briefwechsel, den Fleischmann mit verschiedenen, mir namentlich nicht bekannten Leuten geführt hatte. Das Stichwort „Leder“ brachte mich etwas weiter. Ich atmete tief durch, als ich das Stichwort „Leder“ in Verbindung mit einem Datum vor knapp zwei Wochen fand. Nach einem Klick auf die Maus baute sich vor mir der letzte Brief Fleischmanns an seine Lektorin auf. „Werte Frau Doktor Leder!“, hatte Fleischmann geschrieben, „anbei mein neues Manuskript, das ausnahmsweise einmal nicht mit meinem ,Lieblingsthema’ zu tun hat. Ich würde mich freuen, wenn Ihnen meine ,Metzger-Geschichte’ gefallen würde und wir sie veröffentlichen könnten.“ Mit einem freundlichen Gruß, auch an die Kollegen, endete das knappe Schreiben.
Ich schaltete den Drucker ein, suchte kurz nach dem passenden Papier und druckte mir den Brief zweimal aus. Fleischmann musste diesen Brief
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