Der Grenzgänger
musste damit rechnen, dass der Kommissar meine Bitte ablehnte.
Aber Böhnke stimmte zu meiner Freude zu. „Okay“, sagte er nach langer Bedenkzeit, wenn auch nicht gerade mit überschäumender Begeisterung, „ich bringe Ihnen den Schlüssel vorbei, wenn ich ins Städtchen fahre.“ Irgendetwas müsse ich doch zu tun haben, wenn er mir schon unerwartet einen arbeitsfreien Tag verschafft habe, knurrte er grantig.
Ich hatte kaum den Frühstückstisch abgedeckt und das Schlafzimmer aufgeräumt, als Böhnke schon in der Tür stand. Mit spitzen Fingern und besorgtem Blick überreichte er mir das kleine, abgegriffene Lederetui mit Fleischmanns Schlüssel. „Passen Sie bloß auf“, ermahnte er mich. „Lassen Sie sich von keinem Anwohner erwischen. Es könnte peinlich für uns beide werden, wenn Sie in der Wohnung ertappt werden. Von mir haben Sie jedenfalls die Schlüssel nicht.“
Er solle sich keine Sorgen machen, beruhigte ich den Kommissar mit der üblichen Floskel. „Der Zweck heiligt die Mittel.“ Ich grinste. „Außerdem dient mein Aufenthalt in der Denkfabrik dieses begnadeten Schriftstellers meiner Erleuchtung, um seine Werke besser deuten zu können.“
Bei meinem Spaziergang durchs Städtchen entschloss ich mich kurzerhand zu einer Stippvisite im Luisenhospital. Vielleicht war die Lektorin aufgewacht und ansprechbar, vielleicht konnte sie mir etwas über Fleischmann sagen. Sie kannte ihn wahrscheinlich besser als alle anderen. Doch weit kam ich nicht. Ich hatte höflich an der Rezeption nach Renate Leder und dem Weg zur Intensivstation gefragt, aber neben der Wegbeschreibung nur einen skeptischen Blick erhalten.
Vor der Station wartete man bereits auf mich. Ein älterer Arzt und eine grimmig blickende Schwester versperrten mir den Durchgang und ließen sich weder durch meine Visitenkarte noch durch meine Erklärung erweichen, mich durchzulassen. „Es bringt nichts, wenn wir Sie an das Krankenbett lassen“, sagte der Arzt entschieden, „die Frau ist jenseits von gut und böse.“ Selbstverständlich würde er die Polizei informieren, wenn die Patientin ansprechbar sei.
Schulterzuckend machte ich kehrt.
Nachdem ich mehrmals die Stephanstraße entlanggeschlendert war, eilte ich in Fleischmanns Wohnung, als ich mir sicher war, dass niemand von mir Notiz nahm. Neugierig hatte ich zuvor in den Briefkasten geschaut, der aber immer noch ohne Inhalt war. Die Wohnung faszinierte mich wieder durch ihre Nüchternheit. Ich setzte mich auf den schlichten Schreibtischstuhl im Arbeitsraum, der wohl zugleich Wohnzimmer sein sollte, und sah mich um. Der Papierkorb in Griffnähe auf dem Teppichboden war ebenso leer wie der daneben stehende Aktenvernichter. Die Bücherregale links und rechts von mir waren mit Literatur aus aller Welt gefüllt. Erstaunlicherweise gab es keinen einzigen Kriminalroman, sah ich einmal von Fleischmanns eigenen Werken ab. In seinen Romanen fand ich kleine, bedruckte Zettel mit Seitennennung und Zeilenangaben. Meine aufkeimende Hoffnung, hierin aufschlussreiche Hinweise zu finden, zerstob indes schnell. Die Angaben deuteten lediglich auf Textpassagen hin, die Fleischmann bei Lesungen vortrug. Es waren Charakterschilderungen, Ortsbeschreibungen oder die Darstellung vom Fund eines Mordopfers, die er bei seinen Lesungen bevorzugt vortrug.
Fleischmanns Opfer waren dabei auf weniger spektakuläre Art und Weise ums Leben gekommen als der Autor selbst. Ein Mord mittels Häcksler überstieg anscheinend sogar die Fantasie eines begabten Schriftstellers.
Lange Zeit saß ich grübelnd am Schreibtisch. Meine Gedanken waren so spärlich und sortiert wie die Umgebung, in der ich mich befand. Ich stützte mein Kinn auf der Hand ab, als ich den Computer anschaltete und mit der Maus in den Programmen herumspielte.
Es hatte sich nichts verändert seit dem letzten Mal. Woher und warum hätte es auch anders sein sollen? Überschaubar und für jedermann erkennbar hatte Fleischmann seine Dateien angelegt.
Und dennoch störte mich etwas. Das konnte es doch nicht sein. Entweder war Fleischmann so akkurat, wie es den Anschein hatte, oder jemand hatte, wie ich mir einredete, alle verräterischen Hinweise gelöscht, was allerdings auch nicht ausschloss, dass Fleischmann tatsächlich doch so war, wie es den Anschein hatte. Ich drehte mich mit meiner Überlegung im Kreis, ich schien nicht weiter zu kommen.
Und dennoch… ich erinnerte mich an eine Aussage der Lektorin. Sie hatte davon
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