Der große deutsche Märchenschatz
andern Morgen aber nahm sie ihn bei der Hand und führte ihn zu ihrem Vater, wo er seine Werbung anbrachte und auch gleich mit ihr verlobt ward.
Als sie nun gefrühstückt hatten, gingen sie zusammen spazieren und kamen auf einen Berg, wo sie eine weite Aussicht hatten über das ganze Land, das der König, ihr Vater, beherrschte. Kaum hatte er einen Blick darauf getan und sah nach ihr zurück, so war sie verschwunden.
Er begriff nicht, wo sie geblieben sei. Sie war aber verwünscht worden und in die Erde gesunken. Er meinte, der Wind hätte sie entführt, und verwandelte sich in einen Jagdhund, ihr nachzuspüren. Aber nirgends fand er ihre Witterung, bis er wieder dahin zurückkam, wo sie verschwunden war. Da suchte er nach, ob er nicht irgendeine Spalte fände, und fand endlich eine ganz kleine. Da dachte er: »Wär ich jetzt eine Ameise!« Da war er es auch gleich und kroch durch die Spalte, um zu sehen, wo ihn das hinführen würde. Bald kam er in einen breiten Gang, der gar nicht enden wollte und immer tiefer hinabführte.
Da nahm er aus Ungeduld wieder die Gestalt des Hundes an und lief so lange, bis er ins Freie kam, vor einen groÃen See. Da flog er als Vogel hinüber. Und der See floss ab durch ein groÃes Gittertor, hinter welchem er viele menschliche Gestalten, Herren und Frauen, auf und ab gehen sah. Er kroch als Ameise auf das Gitter und sah bald auch seine Geliebte und hörte sie reden und fragen, ob denn keine Hoffnung sei, aus dieser Gefangenschaft erlöst zu werden.
Nein, hieà es, da sei keine Hoffnung. Denn der sie erlösen sollte, müsste erst ein Schwein überwinden, das alle Tage einem Bauern ein Schaf holen käme. Aus des Schweins Bauch käme dann ein Hase gelaufen, den müsste er einholen und zerreiÃen. Aus dem Hasen flöge dann eine Taube, die müsse er in der Luft einholen und würgen. Aus der Taube fiele dann ein Ei, und das Ei müsse er auf dem Berge entzweiwerfen. Dann würden sie alle miteinander erlöst werden.
Als er das gehört hatte, kroch er von dem Gitter weg, flog als Vogel wieder über den See, lief als Hund durch den dunkeln Gang, kroch als Ameise aus der Spalte und nahm seine menschliche Gestalt wieder an.
Nun erkundigte er sich nach dem Bauern, dem das Schaf von dem wilden Schwein geholt würde, und als er den erfahren hatte, ging er zu ihm und fragte, ob er keinen Schäfer brauchte. Er hätte gehört, ihm würde alle Tage ein Schaf geholt. Wenn er aber hütete, sollte ihm keins mehr genommen werden.
Ja, sagte der Bauer, solch einen Schäfer hätte er gerade notwendig, aber bis jetzt noch keinen gefunden.
Er ward nun gleich als Schäfer angenommen und trieb am andern Morgen seine Herde auf die Trift. Der Bauer dachte: âºDu willst ihm doch nachgehen und sehen, wie er hütet.â¹ Also schlich er ihm nach und verbarg sich im Gesträuch.
Um Mittag kam das Schwein schäumend dahergelaufen und verlangte das Schaf. Da verwandelte er sich in einen Löwen und sagte: »Du kriegst keins.« Da getraute sich das Schwein nicht an den Löwen, aber der Löwe auch nicht an das Schwein.
»Wenn ich nur zwei trockene Brotkrusten hätte«, sagte das Schwein, »so wollte ich es ihm wohl weisen!«
»Und wenn ich nur zwei gebratene Hühner hätte«, sagte der Löwe, »so wollte ich es ihm wohl zeigen!«
So standen sie sich lange gegenüber, bis das Schwein abzog. Als er nun abends nach Hause trieb, zählte der Bauer die Schafe nach und sah, dass ihm keines fehlte.
Am andern Morgen treibt der Schäfer wieder mit den Schafen aus. Da lässt der Bauer schnell zwei Hühner braten, steckt sie in die Tasche und geht ihm nach auf die Trift, wo er sich hinter einem Strauch versteckte.
Um Mittag kommt das Schwein wieder schäumend herangerannt und verlangt das Schaf. Aber er hatte sich in den Löwen verwandelt und rief ihm zu: »Du kriegst keins!«
Da sagte das Schwein: »Wenn ich nur zwei Krusten trocken Brot hätte, so wollte ich es dir wohl weisen!«
Der Löwe entgegnete: »Wenn ich nur zwei gebratene Hühner hätte, so wollte ich es dir wohl zeigen!«
Da wirft ihm der Bauer die gebratenen Hühner zu. Der Löwe verschlingt die Hühner und fällt sogleich das Schwein an und reiÃt es in Stücke. Da entspringt diesem ein Hase und läuft dem Walde zu. »Wärst du jetzt ein Jagdhund«, denkt er da,
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