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Der große Stier

Der große Stier

Titel: Der große Stier Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robin Sanborn
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Instrumentierung, welche die öde Konvention zerreißt, die wir bisher als Klang akzeptiert hatten‹.
    Sid Gluckman von ›Variety‹ schilderte ›Iliyu‹ als ›ein Bild von Mama und Papa für Erwachsene, eine Eskimo-Orgie, begleitet von dreiunddreißig verwirrten Musikern, die an ihren G-Saiten zupften. Aber ich möchte das Werk noch einmal sehen. Und noch einmal. Und noch einmal!‹
    Eine Stratforder Hausfrau reagierte heute morgen recht bezeichnend. ›lch würde nie eins meiner Kinder diese unanständige Aufführung sehen lassen‹, sagte sie. ›Es ist gerade schlimm genug, daß sie sich den ganzen Tag seine Schallplatten anhören.‹ Sie wurde interviewt, während sie für Eintrittskarten Schlange stand.
    Kirchliche Gruppen haben die lebhaftesten Einwän de geäußert. Sie haben darauf hingewiesen, daß diese Oper die freie Liebe, die Abschaffung der Ehe und die Verehrung heidnischer Bräuche befürwortet. Andere gaben ihrer Furcht vor der ›hypnotischen Macht‹ Ausdruck, ›die diese Musik über junge Menschen ausübt‹.«
     
    Der Bus fuhr langsam auf die Golden Gate Bridge zu. Paul steckte die Ausschnitte wieder in den Umschlag und sah aus dem Fenster zum Meer hin, wo die untergehende Sonne auf dem dunkler werdenden Fleisch des Himmels anschwoll wie eine Blutblase. Warum sollte ein Komponist aus Kanada sich ein Haus in Sausalito mieten?
    An der nächsten Haltestelle ging ein dickes Mädchen im Bus nach hinten und setzte sich neben ihn. Glitzernde Schweißperlen rollten ihr über die Pausbacken herunter, lösten das Make-up auf, das ihr Gesicht wie mit Kreide bedeckte, und bildeten kleine Waffeln an den Seiten ihres Kinns.
    Paul schloß die Augen und legte seinen Kopf gleich einem Vogel auf die Schulter. Er wußte, er würde nicht schlafen können. Und auch nicht das Mädchen ansehen können.
    Paul trottete die dreiunddreißig Stufen zu seinem Apartment hinauf und fand einen Papierstreifen mit einem Gummiband am Türknauf festgebunden. Er entfaltete ihn und las:
     
    »Rosenblätter, von Tränen befleckt,
    Das sind die Laute des Lachens in der Nacht.«
     
    Es war Beebees Art, ihm zu sagen: »Wir sehn uns später noch.« Beebee machte stets Versprechungen in Haiku. Er schloß die Tür auf und war nicht überrascht, daß das Bett gemacht war, die Aschenbecher ausgeleert, die Schüsseln aufeinandergestapelt und trocken. Auf seinem Schreibtisch, seitlich auf einer mit Wasser gefüllten Untertasse, eine einzelne blaue Blüte. Beebee war immer besonders phantasiereich, wenn sie entdeckte, daß er die Nacht mit einem anderen Mädchen verbracht hatte.
    Nancy? Norma? Nein, sie hatte gesagt, sie hieße Natalie …
    Auf dem Weg in die Küche zog er sich aus, ließ dort zwei Schweinsrippchen in die frisch gespülte Pfanne fallen und ging zur Dusche.
    In der Seife fand er ein langes orangefarbenes Haar; er tat es in ein Stück Toilettenpapier und spülte es fort. Was hatte Beebee einmal gesagt? »Alle Junggesellen pissen in Ausgüsse.«
    Er war früh genug mit dem Duschen fertig, um die Flamme unter den sprudelnden Schweinsrippchen klein zu drehen. Er zog die abendliche Kleidung von Sausalito an, braune Kordhosen mit einer zerrissenen Tasche, schwarze, mit Milchflecken beschmierte Schuhe, einen schwarzen Sweater. Mit dem Finger malte er ein Z auf den beschlagenen Spiegel und rief »Zorro!«, dann steckte er ein Küchenmesser in einen kalten Kopf Salat.
    An seinem Schreibtisch balancierte er den Teller auf den Knien und las dabei, was er am Abend vorher auf seiner Maschine geschrieben hatte:
     
    »84. Ein alter Hebräer hatte eine Vision, und eine Religion entstand. Ein heutiger Amerikaner hat keine Vision, und er holt den Fernseh-Reparaturfachmann.«
     
    Er biß ein Stück von einem Schweinsrippchen ab und tippte mit der freien Hand:
     
    »85. Wir langweiligen und sauertöpfischen Leute haben unsere Antworten bekommen, ehe wir unsere Fragen gestellt haben. Wir werden prächtig erzogen. Aus wirtschaftlicher Notlage geboren und für nukleare Verbrennung vorgesehen, denken wir mit den Eingeweiden eines Wurmes. Das heißt, da wir weder unseren Anfang noch unser Ende kennen, reagieren wir auf das Leben, indem wir uns zusammenziehen.«
     
    Ein Kratzen an der Tür. Paul streckte sich hinüber und öffnete sie so weit, daß Ginger mühsam ins Zimmer watscheln konnte. Die alte Hündin, ein Cocker-Spaniel, umkreiste zweimal das Zimmer, ehe sie ihre fetten Flanken vor seinen Füßen niederließ. Ihre Augen waren

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