Der große Stier
muß wissen …«
In der Dunkelheit des Badezimmers tastete Paul seinen Weg an dem kalten Porzellanbecken entlang, zog sich daran hoch, drehte beide Wasserhähne auf. Heißes Wasser kam aus dem einen, fast kochend heißes aus dem anderen. Er wartete minutenlang, stundenlang, tagelang darauf, daß das Wasser kühler würde, und als das nicht geschah, trank er es trotzdem, indem er es mit der hohlen Hand zum Munde führte.
Seine Zunge war so trocken, daß sie ihm am Gaumen klebte.
Er hatte vollkommen vergessen, wie man schluckt.
Er ließ sich wieder auf die Hände und Knie sinken, drehte sich herum und fing an, durch die Wolken von gelbem Parfüm und heißem Wachs zu kriechen; dabei preßte er sich an den Fußboden, um Sauerstoff zu bekommen.
Kate redete zu Harvey. »… kommt nur einmal, wie eine Zerkleinerungsmaschine, bläst die gemeinen Rots in ein Nervensolo …«
Harvey zu Kate: »Hatschi, hatschi, hatschi.«
Furbish zu Rachel: »… es ist, als hättest du die Wor te zu einem Lied gehört, das noch niemand geschrieben hat, du bist verdammt traurig, daß du’s nicht singen kannst. Die Orgel spielt, und die Fenster sind schmutzig …«
Rachel zu Furbish: »Noch mehr Schmerz?«
Crimp zu Crimp: »Er aus dem Norden, dessen Seele Eis und Feuer ist, schleudert den Grabgesang herab, entflammt den Scheiterhaufen; zerschmetterte Kreuze, die im Nordlicht scheinen, lachendes Kind, das sich an der kalten, schwarzen Brust der Nacht nährt …«
Paul kroch zum Plattenspieler, lehnte sich darüber, um die Aufschrift der Platte zu lesen, »Stier Nr. 1«. Es gelang ihm, den Tonarm zu lösen und in Bewegung zu setzen.
Auf das trockene Flüstern einer Flöte, das durch das Sprechen flatterte, folgte ein Schrei der Blechblasinstrumente, ein Crescendo der Trommeln, das Pauls Kopf auf den Fußboden hämmerte. Die Laute schienen die Feuchtigkeit aus seinem Gehirn zu saugen, sie sprühten brennende Farben über seine Augenlider, stießen ihm lange metallene Finger in den Magen und in die Brust. Er schwamm in heißem Wachs, er wand sich, um die Nasenlöcher über die Oberfläche zu halten. Seine Hände konnten seine Ohren nicht finden. Er schloß die Augen, hielt den Atem an.
Dann nichts.
Absolut nichts.
Seine Gesichtsmuskeln arbeiteten nicht, sonst hätten sie gezuckt. Er hatte Mühe, die Pupillen seiner Augen im Spiegel wiederzufinden; ein schwarzer Bart lag über seinen Lippen und Wangen wie Pfeffer auf einer geschälten, nassen Kartoffel. Das prickelnde, saubere Licht in der Herrentoilette malte pastellblaue Wasserflecken unter seine Augen, seine Nase und sein Kinn. Dreimal hatte er sich die Zähne geputzt, um die Verschwitztheit davon zu beseitigen, und als er in das Becken spuckte, sah er rosafarbene blutige Streifen, die sich mit dem aufgeblasenen weißen Schaum der Zahnpasta mischten.
Er spritzte kaltes Wasser auf seine Handgelenke, damit seine Hände nicht zitterten. Dann schraubte er die Kappe von einer kleinen Tube Rasiercreme, bedeckte sein Gesicht mit einer Schicht kalten Schaums und begann, sich heftig zu rasieren. Himmel noch mal, wenn Gerner oder Foss oder auch nur Meyer jetzt hereinkäme …
Zigaretten beruhigen das Zentralnervensystem, brennen den Hals aus, bedecken die Lungen mit Krebskulturen. Alkohol massiert das Gemüt, ist Balsam für das Gehirn und versteinert die Leber. Feuchte Vaginas regen den Blutkreislauf an, trocknen die Seele aus und entleeren das Wesentliche der Männlichkeit. Nahrung vergärt zu Fett, das den Puls abdrosselt. Radioaktive Milch macht das Knochenmark zu Gallerte. Leben heißt viele Dinge oft hintergehen, aber warum sich schuldig fühlen? Wenn man schmerzlich nach Umgang mit dem Leben verlangt, weshalb kann man den Deckel der Vaselinedose nicht aufbekommen?
Er streifte die Toilettensachen in seine Aktentasche, ging auf den Flur, schritt mit gemessenen Schritten zu Jerrys Büro.
»Guten Morgen«, sagte Jerry.
»Ich brauch was zum Aufputschen«, erklärte Paul.
»Wie weit hast du denn dringesteckt?«
»Ich würde denken, eine von diesen kleinen, grünen, dreieckigen Pillen könnte mich bis halb zwölf in Schuß halten …« Paul ergriff die Vase mit den künstlichen Blumen und hielt sie sich unter die Nase. »Übrigens, Gerner weiß Bescheid über dein Blumenwasser.«
»So, er weiß es?« Jerry verhakte seine Finger in seinen Bart. Er hatte zwölf Standard-Ausdrücke, die jeder eine Kreuzwegstation darstellten. Die siebente Station zeigte sich so, daß er in sich
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