Der große Stier
sprechen.«
»Ich weiß.«
»Ist er nicht hier?«
Sie zog an ihrer Zigarette. »Ist es Ihnen recht, wenn wir uns hinsetzen? Es ist noch sehr früh für mich.« Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um und schlurfte durch die Diele.
Paul folgte ihr in das Wohnzimmer. Auch dort war nichts weiß. Die Wände und der Fußboden waren aus rohem, nicht bearbeitetem Holz, die Möbel aus dunklem Mahagoni mit üppigen roten Samtpolstern. An der Decke hing ein tropfenförmiger Krönleuchter, und vor dem, aus roten Ziegeln gemauerten Kamin, stand im Mittelpunkt eines kleinen Perserteppichs ein s-förmiger »Liebesstuhl« für zwei Personen aus dem neunzehnten Jahrhundert. Der einzige Schmuck, den es überhaupt in dem Raum gab, war ein antikes Kreuzstich-Mustertuch, das einen rotwangigen Jungen mit seinem Hund darstellte.
»Ihren Mantel, bitte …«
Er zog ihn aus und übergab ihn ihr. »Dies ist ein interessantes Zimmer … hier scheint nichts weiß zu sein.«
»Bringt Sie das aus der Fassung?«
»Nur weil ich fürchte, es könnte bedeuten, daß Richard Stier nicht da ist.«
»Er wohnt schon seit zwei Jahren nicht mehr hier. Was Sie sehen, ist alles mein Eigentum.«
»Zwei Jahre ?« Paul sank in einen Stuhl.
»Ihr Telegramm habe ich bekommen, aber ich hatte keine Möglichkeit, mich mit Ihnen in Verbindung zu setzen um Ihnen mitzuteilen, daß es zwecklos ist, hierher zu kommen.«
»Ist er … wissen Sie, wo er ist?«
»Nein.«
»In Stratford sagte man mir, er sei in Vancouver …«
»Ich glaube, dort hat er ein Apartment, aber ich bin nicht sicher.«
»Es scheint Ihnen gleichgültig zu sein.«
»Das ist es.«
Paul langte nach einer Zigarette. »Vielleicht interessiert es Sie, daß in dem Apartment ein Freund von mir ermordet wurde, und daß der Mann, der den Mord begangen hat, möglicherweise die Absicht hatte, Ihren Gatten zu ermorden!«
»Es tut mir leid um Ihren Freund.« Sie nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse.
»Das ist alles?«
»Ja.«
Paul zündete langsam seine Zigarette an, schlenkerte das Streichholz, bis es erlosch, und warf es in den Ka min. »Recht vielen Dank.«
»Wenn ich irgend etwas für Sie tun kann …«
»Sie können.« Er stand auf. »Geben Sie mir meinen Mantel wieder.«
»Ihren Mantel? Warum das?«
»Ich bin hierher gekommen, um mit Stier zu sprechen. Er ist nicht hier, folglich gehe ich jetzt. Ich denke mir, daß irgend jemand in dieser Stadt weiß, wo er sich aufhält.«
»Aber … da draußen friert es!«
»Auch hier drinnen ist es ziemlich frostig, Mrs. Stier.«
»Warten Sie, bitte. Ich habe töricht gehandelt, ich weiß …« Sie ließ ihre Zigarette in die Kaffeetasse fallen, als ob sie ein Opfer bringen wollte, streckte die Arme hoch und band das Handtuch von ihrem Kopf ab. Wilde Locken schwarzen Haares flossen über ihre Schultern herab. Sie zog den Kragen ihres Morgenrocks nach unten und nahm sorgfältig die Schneebrille ab. Es war, als würde die Gußform einer vollkommen gebildeten Statue aufgebrochen; ihre Nase, ihr Kinn, ihre Wangenknochen waren auserlesen modelliert, ihre Lippen voll, aber in klaren Umrissen gezeichnet. Das Orange der Flammen im Kamin spiegelte sich zart in ihren dunklen Augen.
Paul war völlig gelähmt. Er starrte sie nur an und stellte insgeheim fest, daß sie die allerschönste Frau war –, eine schönere Frau, als er sie sich je hatte vorstellen können.
»Das Alleinsein macht dumm«, sagte sie. »Ich kann Ihnen viel über Richard erzählen, vieles, das Sie gern wissen möchten. Wollen wir miteinander ein Glas Brandy trinken und gute Freunde sein?«
Paul nickte. Seine Handflächen waren sehr warm, was bedeutete, daß die Erfrierungsgefahr vorbei war.
»Damals war ich neunzehn Jahre alt. Es war 1970, in dem Jahr, als mein Vater starb. Er war Holzhändler in – wie nennen Sie es noch, Bauholz? – und oft von unserem Zuhause in Montreal fort, um in Quebec herumzureisen. Aber zu der Zeit mußte er zum Yukon-Territorium fahren. Er sprach nur Französisch, nicht Englisch, er nahm mich mit, weil ich für ihn übersetzte.«
»Sind Sie dann hierher gekommen? Nach Whitehorse?«
»Zuerst ja. Aber dann waren wir weiter nördlich, in Dawson. Es war Sommer. Die Sonne schien sogar um Mitternacht, und ich ging immer am Yukon River spazieren. Einmal sah ich nachts einen Mann allein an einem Baum stehen. Er sang ihn an, sang den Baum an! Ich habe seine Worte nicht verstanden, aber der Gesang war sehr schon. Ich habe den Mann in vielen
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