Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst (German Edition)
einhalten musste, brauchte ich die Lebensmittel, die ich im Proviantbeutel hatte, für die nächste Etappe, die dreiundfünfzig Kilometer bis Castle Crags. Wenn ich in Burney Falls blieb, um auf die Stiefel zu warten, würde ich mich von diesen Vorräten ernähren müssen, da ich nur noch fünf Dollar hatte, also nicht genug, um mich in den nächsten fünf Tagen in der Snackbar zu verköstigen. Ich griff in den Rucksack, zog den Wanderführer heraus und suchte die Adresse von Castle Crags. Ich konnte mir nicht vorstellen, noch einmal bei glühender Hitze dreiundfünfzig Kilometer in zu kleinen Stiefeln zurückzulegen, doch mir blieb nichts anderes übrig, als REI zu bitten, sie mir dorthin zu schicken.
Als ich den Hörer auflegte, kam ich mir überhaupt nicht mehr wie eine taffe Amazonenkönigin vor.
Ich warf einen flehentlichen Blick auf meine Stiefel, als könnten wir uns auf einen Kompromiss einigen. Sie baumelten an ihren staubigen roten Schnürsenkeln am Rucksack, geradezu boshaft in ihrer Teilnahmslosigkeit. Eigentlich hatte ich sie in der Umsonstkiste für PCT-Hiker zurücklassen wollen, sobald die neuen eintrafen. Ich griff nach ihnen, aber ich brachte es nicht über mich, sie anzuziehen. Vielleicht konnte ich auf kurzen Abschnitten ja meine dünnen Sandalen tragen. Ich hatte mehrere Leute getroffen, die abwechselnd in Stiefeln und Sandalen wanderten, nur waren ihre Sandalen weitaus robuster als meine. Ich hatte nie beabsichtigt, meine zum Wandern anzuziehen. Ich hatte sie nur mitgenommen, um meinen Füßen abends ein wenig Erholung zu gönnen, billige Schlappen, die ich bei einem Discounter für 19,99 Dollar oder so gekauft hatte. Ich zog sie aus und wiegte sie in den Händen, als könnte ihnen eine genaue Begutachtung die Haltbarkeit verleihen, die sie nicht besaßen. Die Klettverschlüsse waren schmutzverkrustet und lösten sich an den ausgefransten Enden von den schwarzen Riemen. Die blauen Sohlen waren weich wie Gummi und so dünn, dass ich beim Gehen Steine und Zweige unter den Füßen spürte. Ebenso gut konnte ich gleich ganz ohne Schuhe laufen. Wollte ich so nach Castle Crags wandern?
Vielleicht doch lieber nicht, überlegte ich. So weit war weit genug. In meinen Lebenslauf konnte ich es trotzdem setzen.
»Scheiße«, fluchte ich, hob einen Stein auf und warf ihn mit aller Kraft gegen einen Baum, dann noch einen und noch einen.
Ich dachte an die Frau, an die ich in solchen Augenblicken immer dachte: eine Astrologin, die mir, als ich fünfundzwanzig war, ein Geburtshoroskop erstellt hatte. Eine Freundin hatte mir die Sitzung kurz vor meinem Umzug von Minnesota nach New York zum Abschied geschenkt. Die Astrologin war eine sachliche Frau mittleren Alters namens Pat, die mich an ihrem Küchentisch Platz nehmen ließ, vor sich ein Blatt voller geheimnisvoller Zeichen und einen leise surrenden Kassettenrekorder. Ich nahm das Ganze nicht sonderlich ernst. Ich hielt es für einen Spaß und erwartete, dass sie mir mit typischen Sprüchen wie Sie haben ein gutes Herz die Seele massieren würde.
Doch das tat sie nicht. Oder vielmehr, sie sagte solche Dinge, aber sie sagte auch erstaunlich konkrete Dinge, die so zutreffend und speziell waren, gleichermaßen tröstend wie verstörend, dass ich an mich halten musste, um nicht loszuflennen vor Kummer. »Wie können Sie das wissen?«, fragte ich immer wieder. Und dann hörte ich zu, als sie von den Planeten sprach, von Sonne und Mond, von den »Aspekten« und dem Zeitpunkt meiner Geburt, als sie mir erklärte, was es bedeutete, Jungfrau zu sein mit einem zunehmenden Mond in Löwe und Zwilling. Ich nickte und dachte bei mir: Was für ein bescheuerter, antiintellektueller New-Age-Schwachsinn. Und dann sagte sie wieder etwas, was mich fast um den Verstand brachte, weil es so wahr war.
Schließlich kam sie auf meinen Vater zu sprechen: »War er in Vietnam?«, fragte sie. Ich verneinte. Er war Mitte der sechziger Jahre kurz beim Militär – tatsächlich war er in Colorado Springs stationiert, am selben Standort wie der Vater meiner Mutter, wodurch sich meine Eltern kennenlernten –, aber war nie in Vietnam.
»Wie es scheint, war er wie ein Vietnam-Veteran«, beharrte sie. »Vielleicht nicht im wörtlichen Sinn. Aber er hat etwas mit einigen dieser Männer gemeinsam. Er war zutiefst verletzt. Er war ein Versehrter. Diese Verletzung hat sein Leben infiziert, und sie hat Sie infiziert.«
Ich wollte nicht nicken. Alles, was mir jemals in meinem ganzen Leben
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